• Menü
  • Kolumne
  • Festgefahren. Oder der lange Weg zum kurzen Gespräch.

    Stille ist oft der vermeintliche Kompromiss zwischen Reden und Schweigen. Kolumnist Jonas hat sich unvorhergesehen auf eine Zugreise ins Ungewisse begeben und versucht, dieses Phänomen zu verstehen.

    Mein Zug strandet überraschenderweise in einem Dorf. Man könnte es wohl als Kaff bezeichnen, die Umgebung finde ich (trotz Nacht) aber schön. Die Minuten verstreichen und die Außenwelt kontrastiert mehr und mehr mit dem Inneren des Waggons. Draußen ist es ruhig, drinnen beginnt die Stille alles zu übertönen. Die Frage, wie es weitergehen wird, wie wir alle nach Hause kommen werden, liegt unausgesprochen in der Luft.

    Plötzlich eröffnet uns der Bahn-Mitarbeiter, dass wir auf unbestimmte Zeit wohl hier festsitzen werden. Was für eine absurde Situation. Verstohlene Blicke werden verschwiegen ausgetauscht, wie in den letzten Sekunden vor der Achterbahnfahrt. Wer wohl all die Leute hier sind, mit denen ich die nächste Zeit verbringen werde? Ich beginne zu beten, dass mich die Flasche Mate ausreichend für die Nacht vorbereitet hat.

    Ich öffne meinen Mund, entscheide mich aber spontan, mein erstes Wort in ein Gähnen umzuwandeln. Es fühlt sich fast etwas unangemessen an, zum Gespräch anzusetzen. Was soll man sagen? Ich fühle mich in etwa so, wie in einem Wartezimmer ohne WLAN oder Buch: ausgedehnte Blicke nach der Uhr, der Zimmerdecke oder dem obligatorischen „Gemälde“ an der Wand, das hier leider fehlt. Der Mann neben mir hustet akzentuiert in ein Taschentuch. Sollte man überhaupt etwas sagen?

    Oder doch lieber „was für die Uni machen“, so wie meine Sitznachbarin es offensichtlich versucht? Richtig wäre es wahrscheinlich, doch kann man sich in so einer Situation überhaupt auf die bewegte Geschichte des Thukydides konzentrieren? Ich kann das offensichtlich nicht. Ihren nun geschlossenen Augen nach zu urteilen, kriegt sie es mit ihren Themen wohl auch nicht hin.

    Ein Nickerchen fühlt sich im Angesicht der offensichtlich verzweifelten, mir gegenüber sitzenden Frau, aber auch taktlos an.

    Schweigen ist Gold. Und reden?

    Aus dem Wartezimmer scheint eine Kirche zu werden, der Waggon versunken in einer bereits zwanzig Minuten andauernden Schweigeminute  ̶  doch zu wessen Ehre, scheint keiner zu wissen. Stille Nacht, heilige Nacht? Würden Blicke Kondensstreifen hinterlassen, wäre hier drinnen dichter Nebel.

    Den Passant*innen um mich herum scheint es ähnlich zu gehen, ihren Blicken aus dem Fenster auf die dunkle Nacht zu urteilen. Die Unsicherheit scheint uns alle zu beschäftigen. Aber warum ist es so still? Warum sind wir voreinander so scheu? Manchmal scheinen mir die Hürden zum Gespräch so hoch, dass ich mich frage, ob Small Talk schon eine Grenzüberschreitung ist. Warum ist schweigen so oft Gold?

    Die Sprachwissenschaft schreibt dem zwischenmenschlichen Dialog als Funktion (unter anderem) den Austausch von Informationen zu. Heutzutage könnte man beinahe so weit gehen und mutmaßen: dem Gewinn von Informationen. Ist ein Gespräch also bloß ein Mittel der persönlichen Bereicherung? Wird aus Angst vor Verlust lieber geschwiegen?

    Wo ist das Wort ohne Wert, der Satz ohne Sinn? Ein Schokokeks schafft es, die Stimmung für einen kurzen Moment zu heben.

    Möglicherweise liegt das Problem aber tiefer. Ruhe und Gelassenheit, zwei Dinge, die nicht unbedingt zusammengehören, gehören unweigerlich zur Vorstellung des „guten Umgangs“. Ich denke unweigerlich zurück an zu viele Situationen auf einmal. Spricht mich jemand unvermittelt an, zucke ich zusammen und mache mich für den Bruchteil einer Sekunde auf das Schlimmste gefasst. Vor allem auf offener Straße möchte ich am liebsten in Ruhe gelassen werden. Und jedes Mal fühle ich mich etwas schlecht und denke träumerisch an die undeutlichen Konturen einer anderen Gesellschaft. In der es nicht erst einer Krise bedarf, uns zum unbeschwerten Gespräch, mich zum Schreiben einer solchen Kolumne zu bringen.

    Ein Husten durchbricht plötzlich die vor sich hin bröckelnde Stille. Wir im Zug werden langsam zu lebenden Menschen. Die Absurdität unserer Situation scheint uns bewusst zu werden. Verzweiflung schlägt über in Gelassenheit. Auch in unserer Sitzgemeinschaft ist ein Gesprächsthema schnell gefunden, wir sind die Protagonist*innen.

    Auf einmal reden wir über den Schienenersatzverkehr, die Deutsche Bahn und die Prüfungsphase. Irgendwie bedarf es doch immer Krisen, um uns näherzukommen. Ich nehme mir vor, in Zukunft immer ein Kartenspiel bei mir zu tragen. Man weiß ja nie.

    Der Zug setzt sich in Bewegung. Wir brechen in kollektiven Jubel aus und fühlen uns für einen Moment wie Held*innen.

    Ein älterer Mann macht einen schlechten Witz über die Bahn und wir lachen. Alles nochmal gut gegangen. Dann lehnen wir uns gemütlich zurück und genießen die ruhige Monotonie des Zugfahrens.

     

    Fotos: privat

     

     

    Hochschuljournalismus wie dieser ist teuer. Dementsprechend schwierig ist es, eine unabhängige, ehrenamtlich betriebene Zeitung am Leben zu halten. Wir brauchen also eure Unterstützung: Schon für den Preis eines veganen Gerichts in der Mensa könnt ihr unabhängigen, jungen Journalismus für Studierende, Hochschulangehörige und alle anderen Leipziger*innen auf Steady unterstützen. Wir freuen uns über jeden Euro, der dazu beiträgt, luhze erscheinen zu lassen.

    Verwandte Artikel

    48 Stunden wach

    Straßenbahn fahren, Treppen steigen, Hemden bügeln – Diese scheinbar ganz banalen Alltagsaufgaben sind für Sarah Zessin alles andere als das, denn sie leidet unter der Nervenkrankheit Narkolepsie.

    Thema | 23. Mai 2018

    Der ständige Begleiter

    Nach einer zweimonatigen Weltreise denkt Kolumnistin Natalie über ihre Erfahrungen nach, die nicht immer so positiv waren wie zunächst gedacht.

    Kolumne | 2. Oktober 2022