The sky is the limit
Barbara Zeman lässt uns mit Beteigeuze hinabtauchen und den Blick in den Himmel richten. Sie erzählt gekonnt über Liebe, familiäres Trauma, psychische Krankheit und die Sterne – über fast alles.
Vor einigen Wochen sorgte der Besuch des Jahrhundertkometen C/2023 A3 Tsuchinshan-ATLAS weltweit für Schlagzeilen. Erst in einigen hunderttausend Jahren wird er zurückkehren. Zu spät für uns. Wer sich mit den Phänomenen am Nachhimmel beschäftigt, bekommt schnell Fomo. Im Weltall ist ganz schön viel los.
Dafür steht auch Beteigeuze, der titelgebende Stern von Barbara Zemans neuem Roman. Er befindet sich kurz vor der seiner Explosion, bevor er dann auskühlt und zu einem energielosen Neutronenstern wird. Ein Schicksal, dass mit dem von Protagonistin und Ich-Erzählerin Theresa Neges verbunden zu sein scheint, die geradezu besessen von Beteigeuze ist. Dem Sternenwahn Theresas kann man sich schwer entziehen. Genauso schwer fällt es einem, sich aus dem Netz an Assoziationen zu befreien, in das man sich verstrickt, sobald man einmal anfängt Zemans Gedankenfaden zu folgen. Denn am Himmel ist alles mit allem verbunden, wie in der Sprache, wie im Mythos.
Prolog: Venedig, Liebe, Tod und Meer
„Am Semmering gelbe Blumen. In Travis rote. Bei Udine schläft Josef ein, ich mach ein Foto. […] Spätabends erreichen wir Venedig.“ So beginnt Zemans Roman, mit einer Bewegung von den Bergen zum Wasser hinab, an Theresas Seite ihr Partner Josef, leichenhaft. Udine, kaum zu unterscheiden von „Undine“ jener Nixe, die erst dann eine Seele bekommt, wenn sie sich mit einem Sterblichen verbindet. Schließlich Venedig, das seit Thomas Manns Der Tod in Venedig für eine Durchdringung von Tod und Liebe steht.
Doch Venedig ist für Theresa und Josef nicht die Stadt der Liebe. „Ich nehm seine Hände, leg seine Arme um mich. / So umarmt er mich“ – so wird die trostlose Beziehungsdynamik auf den Punkt gebracht. Der Versuch, das vergangene Glück zu wiederholen, ist gescheitert. „Wir waren schon einmal hier, da waren wir glücklich“, resümiert Theresa und läuft, von Josef verfolgt, ins Wasser.
Auf Tauchgang in Wien
Auch später flieht Theresa ins Wasser. Josef und Theresa leben in einer winzigen Wohnung in Wien. Häufig geht Theresa ins Schwimmbad, taucht beschwert mit einer Bleiweste bis zum Boden des Beckens und einmal – kurz vor ihrem Zusammenbruch – sogar auf den Grund des Donaukanals. Das Tauchen ist für Theresa eine Übung im Sterben. Hier findet Theresa Ruhe.
Ansonsten streift sie rastlos durch Wien, das selbst zu einem Protagonisten des Romans wird. Ohne dabei Rücksicht auf ihre Mitmenschen zu nehmen, geht sie spontanen Impulsen nach. Diese Szenen sind tragisch grundiert, denn wie wir früh erfahren, ist Theresa psychisch krank.
Montage jenseits der Subjektivität
Theresas Selbst- und Fremdbeschreibungen, werden dabei immer wieder von eingeschobenen Fakten unterbrochen, die sich durch ihre Kursivierung allein schon graphisch vom restlichen Text abheben. Sie verweisen auf eine Objektivität, die jenseits von Theresas Perspektive liegt. Und obwohl, das Internet auf der Ebene der Handlung quasi nicht vorkommt, zeugen die Einschübe davon, dass sich Fakten jederzeit ergooglen lassen.
Zemans Roman lässt sich in dieser Hinsicht in eine Tradition literarischen Erzählens einreihen, für die seit einigen Jahren Ursula Le Guin „carrier bag theory“ in Anschlag gebracht wird. Statt einer Heldensage, die den beschwerlichen Weg eines Protagonisten schildert, ist, für Le Guin, das Erzählen eher das Einsammeln verschiedenster Dinge in einem Beutel.
Die Einschübe von Fakten lässt sich als Versuch Theresas lesen, sich in dem Strudel, in den sie gerät, an den objektiven Fakten festzuhalten. Sie wirken bisweilen wie zwanghafte Assoziationen, die Theresa immer wieder vom hier und jetzt dissoziieren, etwa in folgender Passage: „Ich streich mir eine Strähne aus dem Gesicht. Man bleicht die Haare wasserstoffblond, aus Wasserstoff bestehen auch die Sterne. Das hat jemand in einem Podcast erzählt, es ging dabei um ihren Tod: Supernova. Plural Supernova. Explosion. Die Leuchtkraft des Sterns nimmt millionen- bis milliardenfach zu, er wird für kurze Zeit so hell wie eine Galaxie.“
Beteigeuze, ein Stern vor dem Kollaps
Supernova. Ein Schicksal, das auch Beteigeuze kurz bevorsteht. Aber auch die rastlose Theresa brennt aus und setzt dabei, wie Beteigeuze, enorme Energien frei. Sie schläft nicht mehr, ihre Gedanken fliegen von einem zu anderen. Sie bricht den Kontakt zu ihrem Therapeuten ab, schmeißt ihre Tabletten aus dem Fenster. Der Wahn nimmt überhand. Einerseits fürchtet sich Theresa dabei vor dem Untergang, andererseits scheint sie sich ihn herbeizusehnen: „Wie schön ein solcher Kollaps ist!“ In dieser konstanten Bewegung erkennt man dabei zwar nicht unbedingt eine Handlung, aber ein Prinzip, dass die Fragmente organisiert und sie als Teil eines Ganzen erscheinen lässt.
Dass sie mit diesem Stern ein Schicksal teilt, erlebt Theresa in den Momenten der kosmischen Vereinigung, die Kontrapunkte zu ihren stillen Tauchgängen bilden. Auf dem Zenit ihrer größenwahnsinnigen Identifikation mit Beteigeuze heißt es, über die Sonne: „Irrelevantes Dingelchen. Eifersüchtig auf Beteigeuzes Glanz. Und natürlich auch auf mich, mein sternenhelles Flirren. Sonne sendet Magnetfeldsturm! Sonne schickt Protuberanzen. Die greift nach mir, verpiss dich, du Sonne, durchschnittlich großer Stern im äußeren Drittel der Milchstraße, von unendlich großer Irrelevanz. Haha!“
Familiengeschichte und Wiederholungszwang
Sofort im Anschluss an den Höhenflug folgt aber der Wunsch, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Plötzlich geht es um den brutalen Tod von Theresas Großonkel, der vor den Augen ihrer Großmutter Lilly in eine Landmaschine hineingerät. „Blut ist rot wie Beteigeuze.“ Und wird daher auch mit Krieg in Verbindung gebracht. Während der Bruder stirbt, sind auch der Vater Ackermann, genauso wie Lillys Mann Ebner Feldner auf dem Feld, dem Schlachtfeld des Zweiten Weltkriegs. Auch in der weiblichen Linie sind die Figuren motivisch verknüpft. Die Wiederholungen wirken manchmal zufällig, können aber auch als innerfamiliäre Zeichen verstanden werden, die auf transgenerationale Traumata verweisen. Für Siegmund Freud ist die Wiederholung selbst eine Form des traumatischen Erinnerns. Auch Theresa kann sich nicht aus dem Wiederholungszwang lösen. Entsprechend kommt in Beteigeuze keine wirkliche Handlung zustande, denn dies würde eine Befreiung von den sie beherrschenden Kräften voraussetzen.
Schluss
Seit Einstein ist die Einheit von Raum und Zeit bekannt und auch in Zemans Roman sind diese beiden Dimensionen verknüpft, die Kräfte aus der tiefen Vergangenheit mit denen aus der Ferne des Alls. Früher sprach man in der Physik im Fall der Gravitationskraft von „Fernwirkung“, da hierbei die Kraft nicht vermittels eines Mediums übertragen wird. Die Gravitation nimmt zwar mit zunehmender Entfernung ab, ihre Wirkung ist aber im Grunde unendlich. Dadurch ist tatsächlich alles mit allem verbunden. In Beteigeuze wird dies auf textlicher, auf motivischer Ebene nachgebildet. Allerdings entfalten sich hierbei die Kräfte sehr wohl durch ein Medium, nämlich durch die Sprache, durch die Worte, die den Anfang mit dem Ende verbinden. Und erst dort, am Ende blitzt kurz die Möglichkeit auf, sich diesen Kräften vielleicht doch einmal entledigen zu können. „Blue, blue, electric blue “, das ist das Mantra, mit Theresa sich zu beruhigen versucht. Beginnt der Roman mit den gelben und roten Blumen, so endet er bei der Farbe der Ruhe, der Melancholie: „Ich atme. / Sehe nach oben. / Wie schön. Wie blau das alles ist.“ Und wir, wir tun es ihr gleich.
Barbara Zeman, Beteigeuze. € 24 / 304 Seiten. dtv, München 2024
Grafik: Sara Wolkers
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