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  • Wie sinnlos der Krieg doch ist

    Als das Manuskript von "Der Überläufer" im Nachlass von Siegfried Lenz entdeckt wurde, war schnell klar, dass auch dieses Buch ein Bestseller werden würde. 2020 wurde es zum ARD-Zweiteiler.

    Es ist das Jahr 1944. Als Walter und Wolfgang ausgerüstet mit ihren Helmen, ihrem Proviant und ihren Gewehren über den moosbedeckten Waldboden marschieren, hören sie plötzlich Stimmen. Sie gehen hinter einem umgefallenen toten Baum in Deckung und beobachten zwei Männer, die eine Kiste zwischen sich durch den Wald tragen. Während Wolfgang mit dem Gewehr auf sie zielt, wartet Walter noch ab. Als er hinter den beiden Männern eine Frau mit einer Pistole laufen sieht, fasst er Wolfgang an der Schulter und bedeutet ihm durch Kopf-Schütteln, nicht zu schießen. Wolfgang lässt das Gewehr sinken.

    In dieser Szene zeigt Regisseur Florian Gallenberger den vorläufigen Höhepunkt der charakterlichen Entwicklung von Walter Proska (Jannis Niewöhner), der Hauptfigur des Films. Der junge Wehrmachtssoldat beginnt zu erkennen, dass es im Krieg unmöglich ist, keine Schuld auf sich zu laden.

    Ein verunsicherter Protagonist

    Proska ist, trotz der üblichen Floskeln von Eid, Pflicht und Kameradschaft, die zu Beginn noch über seine Lippen kommen, keinesfalls moralisch gefestigt. Er ist ein Mann, der noch nicht zu sich gefunden hat, dem lediglich der Krieg vermeintliche Sicherheit darüber gibt, was zu tun ist. So sind die knapp drei Stunden Spielzeit für ihn eine beinahe quälend lange Phase der Selbstreflexion.

    Jannis Niewöhner, der bereits in mehreren Literaturverfilmungen mitspielte, zuletzt etwa in Der Fall Collini oder in einer der Hauptrollen in Narziss und Goldmund, schafft es durch seine Mimik und Gestik, glaubwürdig die Verunsicherung Walter Proskas auszudrücken. Lakonisch knapp macht er dessen Gefühle mit wenigen Mitteln sichtbar.

    Eine elegante Partisanin

    Filmszene "Der Überläufer". Eine Frau zielt mit einer Pistole in Richtung der Kamera.

    Walters spätere Geliebte Wanda (Quelle: NDR/Dreamtool Entertainment)

    Ein mit Niewöhner vergleichbares schauspielerisches Talent zeigt auch Malgorzata Mikolajczak, die so eindringlich wie elegant die Polin Wanda Zielinski verkörpert. Die Beziehung zu ihr ist der zentrale emotionale Aufhänger für Walters Dramaturgie. Obwohl die beiden bereits während ihres ersten Aufeinandertreffens im Zug nach Grajewo Gefühle füreinander entwickeln, wirkt ihre Interaktion gerade am Anfang gespielt. Spätestens mit der Liebesszene im Kornfeld entfaltet sie einen Kitsch, der nur in eine Literaturverfilmung passen kann, nicht in ein realistisches Bild des Krieges.

    Filmszene "Der Überläufer". Portraitfoto von einem Soldaten mit Helm.

    Walters bester Freund Wolfgang (Quelle: NDR/Dreamtool Entertainment)

    Ein überzeugter Moralapostel

    Außerdem ist Walter Proskas Geschichte auch von seiner Interaktion mit einer anderen Person geprägt – seinem besten Freund Wolfgang Kürschner (Sebastian Urzendowsky). Als sich die beiden in den Prypjatsümpfen kennenlernen, erscheint Wolfgang noch als moralisch integerste Person – spricht er doch als erster aus, sich für dieses Deutschland nicht mehr opfern zu wollen. Er löst sich schon recht früh aus der falsch verstandenen Pflicht, stolpert dabei aber in ideologischer Blindheit nur von einer menschenverachtenden Maschinerie in die nächste. Der zwanghaft um Integrität bemühte Wolfgang ist damit ein gutes Beispiel dafür, wie ambivalent Siegfried Lenz seine Figuren gestaltet.

    Veröffentlichung um 65 Jahre verschoben

    Als Lenz den Roman Anfang der 1950er Jahre fertiggestellt hatte, stieß er bei seinem Verlag Hoffmann & Campe erst auf Bedenken und dann auf Ablehnung. Der Verlag verweigerte sich damals der Veröffentlichung – aus politischen Gründen. In der Hochphase des Kalten Krieges durchaus vorstellbar, passte die Handlung des Buches doch nicht in das restaurative Klima der frühen Adenauer-Epoche. Im März 2016 schließlich erschien der Roman, nachdem er im Nachlass seines 16 Monate zuvor verstorbenen Schöpfers entdeckt wurde.

    Regisseur Florian Gallenberger schafft es mit dieser zumindest zu Beginn erstaunlich textgetreuen Umsetzung des Stoffs, die Reihe der Siegfried-Lenz-Verfilmungen der letzten Jahre wie Schweigeminute und Deutschstunde um ein Soldatendrama zu ergänzen, das vielschichtig von den Zweifeln am Sinn des Krieges erzählt, die Schuldfrage thematisiert und das Dilemma schildert, in dem die Soldaten auf beiden Seiten der Front standen.

    Heute ist die Verfilmung von Siegfried Lenz´ Roman trotz einiger dramaturgischer Schwächen, etwa der unwirklich, fast utopisch wirkenden Momente zwischen Walter und Wanda, eine gelungene Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkriegs.

     

    Titelbild: Jannis Niewöhner in seiner Rolle als Walter Proska (NDR/Dreamtool Entertainment)

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