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  • „Dein Innerstes bekommen sie nicht zu fassen“

    Oder doch? Mit der Inszenierung des Romans «1984» von George Orwell geht das Ensemble der Leipziger Cammerspiele der Frage nach, ob Widerstand innerhalb eines totalitären Systems möglich ist.

    Die Inszenierung beginnt mit der Aufforderung des Schauspielers Frithjof Rave, die Augen zu schließen. Es folgt ein Gedankenspaziergang für das Publikum, der jede*n aus dem Saal der Cammerspiele am Connewitzer Kreuz nach Hause führt. Was dabei erweckt wird, ist das besondere Gefühl des Zuhauseseins, die Ruhe und der Frieden der eigenen vier Wände. Danach erzählt Rave noch von seinem eigenen Zuhause und dann beginnt das Stück. Dieser Einstieg ist nur einer von vielen Interaktionen des Ensembles mit dem Publikum. Ohne sich dabei albern zu fühlen, werden die Zuschauer*innen so immer wieder abgeholt und in das Stück mit einbezogen.  

    Unter der Regie von Simon Carl Köber widmen sich insgesamt vier Schauspieler*innen dem berühmten Roman «1984» von George Orwell. Es ist die Geschichte des Parteimitglieds Winston Smith (Frithjof Rave), der in einer Diktatur mit Überwachungsapparat lebt und nach Wegen des Widerstands sucht. Er verliebt sich in seine Kollegin Julia (Patricia Franke), und gemeinsam nehmen sie den Kampf gegen das Regime auf. Nach seiner Verhaftung foltert O‘Brien Winston und versucht seinen Willen zu brechen, um ihn vor seiner Hinrichtung zu einem treuen Anhänger des Staates zu formen. Das Bühnenbild, gestaltet von Karolin Wallowy, besteht aus vier fahrbaren Spiegelwänden, von denen eine mit einer Szene aus dem ersten Teil des Romans beschrieben ist. Dazu steht eine Leiter im Raum und weiße Wäsche hängt an Leinen unter der Decke. Sie dient einerseits der Atmosphäre, andererseits aber auch als Kostümfundus der wechselnden Nebenrollen, gespielt von Lea Mergell. Ganz hinten ist eine kleine Bühne aufgebaut, von der aus Ada Meret Helene Brack vielfältige Soundeffekte einspielt und für musikalische Untermalung sorgt. Beispielsweise ist ein ständiges Knistern zu hören, wodurch der lebhafte Eindruck entsteht, der Raum sei voller Teleschirme. Es ergibt sich für das Publikum ein weißes Gesamtbild, vor dem die Hauptfiguren Winston und Julia mit ihren farbenfrohen Kostümen im Hipster-Schick, die von Kim Josephine Schölch entworfen wurden, herausstechen. 

    Die Inszenierung zeigt klug ausgewählte Szenen des Buches und ist insgesamt nah am Roman aufgebaut. Auch der meiste Text ist Originaltext von Orwell, nur an manchen Stellen wurden leichte Änderungen und Ergänzungen vorgenommen, die sich aber gut einfügen. Auf diese Weise bekommt Julia etwas mehr Sprechanteil, zum Beispiel übernimmt sie im Gespräch mit O’Brien (Lea Mergell) Dialogparts von Winston. Dadurch wirkt die Rolle handlungsfähiger und interessierter am theoretischen Widerstand als im Roman, in dem Julia sich nur für das gute Leben, Sex und Liebe interessiert und Winston den politischen Part übernimmt.  

    Die oft fließend ineinander übergehenden Szenen, mit wenig Umbau des Bühnenbilds, sind gleichzeitig Stärke und Schwäche der Inszenierung. Wer das Buch gut kennt, wird mitgerissen und bekommt in kürzester Zeit einen ganzen Roman gezeigt, ohne dabei schmerzhafte Kürzungen von Orwells Erzählung hinnehmen zu müssen. Es könnte allerdings sein, dass Zuschauer*innen, die nicht allzu vertraut mit dem Buch sind, sich in den schnellen Szenen- und Rollenwechseln etwas verlieren und nicht immer alle Dialoge einordnen können. Die Liebesgeschichte zwischen Winston und Julia kämpft in der Inszenierung, noch mehr als im Roman, um ihre Zärtlichkeit. In der totalen Unterdrückung durch den Staat gibt es keinen Raum für den langweiligen Alltag eines Paares, gemeinsam durch die Straßen bummeln, gemeinsam alt werden. Über jedem glücklichen Moment schwebt die bevorstehende Strafe. Dies wird deutlich, als Julia Winston eine Liebeserklärung macht und er antwortet: „Wir sind Tote.“ Besonders hervorzuheben ist der sensible Umgang der Inszenierung mit Gewalt. Winstons Schicksal ist gewaltvoll, vor allem zum Schluss, als er in das Foltergefängnis des Regimes gerät. Seine und Julias Unterdrückung, die Verzweiflung und am Ende das Brechen von Winstons Willen, werden den Zuschauer*innen sehr bewegend vermittelt, ohne dabei zu erschrecken oder zu schockieren. Dies gelingt, indem der gewaltvolle Text beispielsweise nicht bildlich dargestellt oder durch die Inszenierung entschärft wird. Winstons und Julias Verhaftung wird durch eine überzeugende Gesangseinlage von Brack dargestellt. Das ganze Stück vermittelt die volle Dramatik und Emotionalität der Geschichte ohne einen einzigen lauten Schrei. 

     

    „1984“ feierte am 24. April in den Cammerspielen Leipzig Premiere. Tickets für Aufführungen im Mai und Juni sind über die Website des Theaters zu erwerben. 

     

    Titelbild: Kim J. Schölch & Karolin Wallowy

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