• Menü
  • Kultur
  • «Eine Ambivalenz von Schönheit und Schrecken»

    Im Gespräch mit Anke Feuchtenberger über ihre Graphic Novel «Genossin Kuckuck» und was Schnecken über das Leben aussagen können.

    Unter den diesjährigen nominierten Autor*innen für den Preis der Leipziger Buchmesse hat sich in der Kategorie Belletristik ein ganz besonderes Buch versteckt: Geschützt durch einen dunklen Einband mit goldenen Elementen finden sich 448 Seiten voller detaillierter, vielschichtiger und packender Zeichnungen. Mit «Genossin Kuckuck» wurde zum ersten Mal eine Graphic Novel für den Preis nominiert. Über ein Jahrzehnt hat Anke Feuchtenberger an dem Buch gearbeitet und autobiografisch das Aufwachsen in der DDR gezeichnet. Es geht um das Leben zwischen Zusammensein und Trennung, zwischen verbaler, körperlicher und sexueller Gewalt. Es geht um Krieg und Volkseigentum und immer wieder die Russen. Dazwischen sind Schnecken und Pilze, die dem Ganzen eine fantastische und eher abstrakte Form geben, ohne dass beim Lesen der Bezug zur Wirklichkeit verloren geht. Feuchtenberger lebt und arbeitet in Mecklenburg-Vorpommern und Hamburg, wo sie eine Professur für Grafische Erzählung und Zeichnen an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften innehat. Mitten im Trubel der Leipziger Buchmesse trifft luhze-Redakteurin Margarete Arendt die Autorin zum Interview. 

    luhze: Wie ist Ihr Gefühl zur Preisverleihung des Preises der Leipziger Buchmesse? Sind Sie enttäuscht darüber, nicht gewonnen zu haben? 

    Anke Feuchtenberger: Nein. Ich bin eher froh, dass der Trubel jetzt vorbei ist und ich nach Hause fahren und wieder meine Arbeit machen kann. Das ist ein künstliches Anheizen von Konkurrenz und das ist nicht so meine Welt. Ich habe schon vor Wochen gewusst, dass es Barbi Marcović wird, und hatte offensichtlich einen guten Riecher. Deswegen habe ich mich gar nicht weiter damit befasst und bin total froh, nominiert gewesen zu sein. 

    Aus welchem Impuls heraus ist «Genossin Kuckuck» entstanden? 

    Das waren zwei verschiedene Momente. Zum einen gab es vor vielen Jahren einmal einen Moment großer Erschöpfung, wegen der Arbeit und so weiter, in dem ich mich ausgestreckt und ein merkwürdiges Brummen in meinem Körper gespürt habe und dachte, es wäre das Handy. Aber es war nicht das Handy, sondern so ein ganz eigenartiges Gefühl, und in dem Moment dachte ich, dass alles im Körper miteinander verbunden ist, wie so ein Pilz in einem Myzel verbunden ist. Ein paar Tage später war ich im Wald und habe dort Pilze beobachtet und da gab es einen Moment, in dem ich dachte, dass ich darüber gerne etwas machen würde, aber wie fange ich an? Das waren sozusagen zwei Ausgangspunkte, die Pilze und die Schnecken zu beobachten und dann einfach so Sensationen im eigenen Körper. 

    Womit wir bei der nächsten Frage wären: Wieso die Schnecken? Mögen Sie Schnecken, oder wie sind die Schnecken in das Buch gekommen? 

    Ich glaube, dass wir als Kinder alle sehr großes Interesse haben an diesen Tieren. Gerade weil sie so klein sind und nicht gefährlich werden können im ersten Moment. Ich kann mich auch erinnern, dass ich als Kind tatsächlich Schnecken gesammelt habe und versucht habe, so einen Garten für sie zu machen. Die sind dann immer über Nacht weggekrochen, die haben sich natürlich nicht einfangen lassen. Zu dieser Kindheitserinnerung kam noch dazu, dass ich 2009 nach Vorpommern aufs Land gezogen bin und da war gerade eine Schneckeninvasion, die bis heute anhält und wirklich massiv ist. Da können kleine, niedliche Tiere extrem gefährlich werden für so ein ganzes Areal, weil sie alles auffressen und vernichten, was man mühevoll angepflanzt hat. Und diese Ambivalenz durchzieht das ganze Buch. Eine Ambivalenz von Schönheit und Schrecken, das war so der Versuch, immer beide Seiten anzugucken, in den Beziehungen zwischen Menschen, aber auch in den Beziehungen zwischen Mensch und Tier. 

    Haben Sie ein persönliches Lieblingskapitel im Buch? 

    Das kann ich nicht wirklich sagen. Ich habe die Kapitel eher zusammengebaut, als linear zu schreiben, wie es in der Literatur vielleicht gängig ist. Damit meine ich, dass ich verschiedene Kapitel zu verschiedenen Zeiten zeichne und dann im Nachhinein auch wieder Kapitel austausche, neu zeichne, wegwerfe und immer gucke: Wo braucht es noch etwas, damit es rund wird? Es geht nicht um Linearität, sondern um eine räumliche Konstruktion. Aber in dem Ganzen mag ich besonders das Kapitel über Königin Vontjanze, in dem sie durch den Garten zieht und nur ein sehr kurzes Leben hat. Dieses Leben, was ich damals beobachtet und mitgeschrieben habe, ist sozusagen sehr realistisch. Ich mag daran, dass es so ein Moment der Versenkung war, was man im täglichen Leben selten hat, dass man eine Stunde lang einfach zuguckt, wie so ein Leben abläuft. 

    Wie kam es zu dem Titel «Genossin Kuckuck»? 

    Ich habe fast dreizehn Jahre unter dem Titel «Ein deutsches Tier im deutschen Wald» gearbeitet. Ich war auch sehr zufrieden damit und der Titel hat mir immer wieder geholfen zurückzukommen, wenn ich ausgebüxt bin. Dann ging es gegen Ende der Arbeit am Buch um die Übersetzung und ich habe mich mit mehreren Verlagen aus Italien, Frankreich und den USA in Verbindung gesetzt. Dabei habe ich gemerkt, dass mir ein Titel, in dem zweimal ‚deutsch‘ vorkommt, zu heftig ist, das ist vielleicht schwierig für andere Länder. Und dann habe ich mich daran erinnert, dass es dieses wunderbare Lied namens «Cuckoo Madame» von Robert Wyatt gibt, das ich sehr liebe. Das ist auch so verbunden mit dem Anfang meines Buches, also habe ich eine sozialistische Version dieser Cuckoo Madame erfunden, und das ist Genossin Kuckuck. Dieser Titel ist einfach griffiger, auch für den Verkauf. 

    Das Buch «Genossin Kuckuck» spielt in einem fiktiven Dorf namens Pritschitanow. Wie könnte so ein Dorf heute aussehen? 

    Das beschreibe ich in dem Buch. Da sieht es so aus, wie es in dem Buch ist. Immer noch. Keine Neubauten, der Wald ist vielleicht dünner. (lacht) 

    Und die Menschen? 

    Ich meine, ich bin ja auch nicht mehr jung und wir Baby-Boomer sind jetzt die Generation, die dieses Dorf bewohnt. Wir sind immer noch dieselben. Ich beschreibe das ja auch, die Begegnung kurz nach der Wende. Und es ändert sich nicht so viel. Was sich allerdings geändert hat, ist mein Blick darauf, dass ich das auch politisch einordnen kann, was ich als Kind nicht konnte. Ich war auch kein Kind in der DDR, ich war einfach ein Kind. Jetzt habe ich einen anderen Blick darauf. 

    Was ist Ihr aktuelles Lieblingsbuch? 

    Es ist nicht mein Lieblingsbuch, aber ich habe es gerade gelesen und bin ganz überrascht, dass es mich so sehr fasziniert und beschäftigt. «1940 – Stalins glückliches Jahr» ist der Titel, von Wladislaw Hedeler. Es ist ein wissenschaftliches Sachbuch über ein Jahr der Herrschaft von Stalin in der Sowjetunion. Es ist so gut geschrieben, dass dieser ganze Horror und die Grausamkeiten, die da plötzlich für mich auch nochmal neu aufgelistet werden, so einen komischen, grausamen Humor entwickeln. Es ist nicht zynisch, es ist einfach die Komik, die aus diesem Wahnwitz entsteht. Das ist unglaublich gewesen für mich. 

     

    Titelbild: Gunter Glücklich

    Hochschuljournalismus wie dieser ist teuer. Dementsprechend schwierig ist es, eine unabhängige, ehrenamtlich betriebene Zeitung am Leben zu halten. Wir brauchen also eure Unterstützung: Schon für den Preis eines veganen Gerichts in der Mensa könnt ihr unabhängigen, jungen Journalismus für Studierende, Hochschulangehörige und alle anderen Leipziger*innen auf Steady unterstützen. Wir freuen uns über jeden Euro, der dazu beiträgt, luhze erscheinen zu lassen.

    Verwandte Artikel

    Preisverdächtige Zeilen

    Zur Leipziger Buchmesse werden besonders gelungene literarische Werke und deren Präsentation ausgezeichnet. Dabei hat auch die nominierte Autorin Kenah Cusanit mit ihrem Roman „Babel” gute Chancen.

    Kultur | 19. März 2019

    „Ihr müsst dringend mal ein bisschen mehr Welt hereinlassen“

    Immer wenn Selma von einem Okapi träumt, stirbt am nächsten Tag ein Mensch im Dorf. Mariana Leky beschreibt mit ihrem Roman „Was man von hier aus sehen kann“ bittersüß Leben und Tod.

    Kultur | 16. September 2023