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  • Bist du noch links oder schon woke?

    Philosophin Susan Neiman stellt beim „Literarischen Herbst“ in einem Interview über ihre Streitschrift „Links ist nicht woke“ die „Woken“ auf die Anklagebank – ein bisschen zu vorschnell.

    „Nur noch zwei Plätze sind frei!“, ruft eine Mitarbeiterin dem Schwarm neu ankommender Leute entgegen. Der Vortragssaal in der Bibliotheca Albertina ist zur Eröffnung des Leipziger Literaturfestivals „Literarischer Herbst“ am 23. Oktober proppenvoll. Jugendliche drängen sich auf den Fensterbänken aneinander, einige müssen stehen. „Links ist nicht woke“ ist der Titel des heutigen Abends, der alle Altersklassen von Schüler*innen zu Rentner*innen in den Vortragssaal gelockt hat. Denselben Titel trägt das umstrittene Buch der Philosophin Susan Neiman, das sie auch als „philosophische Streitschrift“ bezeichnet.

    Wer oder was ist „woke“?

    Im Gespräch mit dem Moderator Ulrich Gutmeier gibt Neiman schnell ihre eigene politische Position zu verstehen: Sie versteht sich selbst als linke Sozialistin. Das spiegelt sich auch in ihrer Biografie wider. Heute in Berlin lebend, wurde sie als Kind einer jüdischen Familie im US-Staat Georgia geboren und schon früh politisiert. Ihre Mutter war in der Bürgerrechtsbewegung aktiv. Neiman selbst wurde zum „highschool-dropout“, um sich aktivistischen Gruppen anzuschließen, bevor sie eine akademische Karriere einschlug. Versteht man „wokeness“ in ihrer ursprünglichen Bedeutung, in der sie auf die Unterdrückung von Schwarzen in den USA aufmerksam machte, ist Neiman also selbst mit den Anfängen von „wokeness“ aufgewachsen. Dennoch möchte sie sich heute dezidiert davon abgrenzen, und ist damit nicht allein.
    „Woke“, wörtlich übersetzt so viel wie „wach” oder „wachsam“, bezieht sich grundsätzlich auf ein Bewusstsein für soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Heute bezeichnet er aktivistische Kämpfe für die Rechte marginalisierter Gruppen, vor allem im Antirassismus und Feminismus, und wird mit oft jungen Akademiker*innen assoziiert. In den letzten zehn Jahren gewann der Begriff weltweit an immer mehr Popularität, nicht zuletzt als politisch aufgeladener „Kampfbegriff“. Allen voran rechte und konservative Parteien in den USA, Deutschland und weiteren Ländern kritisieren die woke Bewegung als indoktrinierend, die Meinungsfreiheit beschneidend und gefährlich. In Wahlkämpfen führen sie „anti-wokeness” als zentralen Programmpunkt. „Woke“ wird also weniger als Selbstbeschreibung, sondern zumeist von Kritiker*innen als abwertende Bezeichnung genutzt. Die gibt es auch auf Seiten der Linken: Neiman ist eine davon.

    Eine klarere Definition dessen, wovon sie sich abgrenzt, liefert sie nicht, und lässt sich das auch nicht vorwerfen. Neiman möchte sich lieber auf die „linke“ Seite der Ungleichung „links ist nicht woke“ konzentrieren und die aufklärerischen Ideale Universalismus, Gerechtigkeit und Fortschritt als Grundlage linker Theorie starkmachen. Woke hingegen sei ein „zu inkohärenter Begriff“. Außerdem „würden alle im Saal aus eigener Erfahrung wissen, was damit gemeint sei“. Damit baut sie auf einem vagen Konzept von „woke“ auf, das in gesellschaftlichen Diskursen ein mit negativen Emotionen behaftetes Reizwort ist, die durch Neiman bestärkt werden. Die Ungleichung besteht nämlich darin, dass sie die aufklärerischen Ideale an den Defiziten der „Woken“ auffächert. Auf diese Weise wird das undefinierte „woke“ zu einem reinen Negativbild der linken Ideale, dessen einzigen Charakteristika Verfehlungen sind. Die drei Kernthesen werden zu drei Anklagen.

    Stammesdenker*innen

    Erster Vorwurf: Die Woken verraten den Universalismus zugunsten einer „Identitätspolitik“. Allein das Wort finde Neiman „schrecklich“, impliziere es doch, dass nur die zwei Identitäten „race“ und „gender“ maßgebend sind. Sie sagt dazu lieber „Stammesdenken“ und meint das missbilligend: „Woke“ können statt individueller Personen nur noch die Angehörigkeit zu einer bestimmten Kategorie bzw. einem „Stamm“ erkennen. Wer denkt, dass man „keine Verpflichtungen oder Verbindungen zu Menschen anderen Stammes“ haben kann, sei in Wahrheit reaktionär und erzkonservativ. Damit spielt Neiman vermutlich auf die Debatten rund um kulturelle Aneignung an. „Es ist mir tausendmal wichtiger, Universalistin zu sein, als ein paar Gene mit Benjamin Netanjahu zu teilen!“, ruft sie und erntet dafür herzhaftes Gelächter.

    Für die, die still bleiben, steht womöglich ein kleines Missverständnis im Raum. Nicht wenige, die man unter der Bezeichnung „woke“ versammeln könnte, würden nämlich ähnlich rigoros „Stammesdenken“ ablehnen und Universalismus befürworten. Ein zentrales wokes Anliegen ist es gerade, biologistisches „Stammesdenken“ zu problematisieren, das in der Vergangenheit — inklusive in Zeiten der Aufklärung — Kolonisation, Exklusion und Gewalt an bestimmten Gruppen „rechtfertigt“ hat. Dafür müssen, so schwierig der Prozess ist, Kategorien benannt werden.

    Neiman hat insofern Recht, dass dieser Prozess mit all seinen Risiken austariert werden muss. Wann wird ein Bewusstsein für Marginalisierung aufgrund von zufälligen Kategorien wie Hautfarbe oder Geschlecht zu einer Überbetonung solcher Kategorien? Wann wird die Reduktion auf solche Kategorien eher zementiert, als zu ihrer Überwindung beizutragen? Diese Fragen müssen je nach Kontext neu gestellt und diskutiert werden. Erwähnenswert ist hier der Ansatz der Intersektionalität, der die Verschränkung und das Zusammenwirken mehrerer Unterdrückungsmechanismen beschreibt und sich um eine ganzheitlichere Perspektive bemüht.

    Allerdings versäumt Neiman, wichtige Differenzen zu betonen: die Kategorisierung von Menschen, um bestimmte Gruppen auszuschließen; und die Benennung einer solchen Kategorisierung, um die damit verbundene Diskriminierung zu verurteilen, unterscheiden sich allein durch die gegenteilige Zielsetzung fundamental voneinander. Auch ist der kritische Abgleich zwischen dem Postulat von Universalismus und der realen Umsetzung von Universalismus nicht direkt gleichzusetzen mit Anti-Universalismus.

    Unechte Solidarität

    Zweiter Vorwurf: Die Woken geben Gerechtigkeit zugunsten von Macht auf, Prinzipien zugunsten von Interessen. Als Beispiel nennt sie „Allies“, was übersetzt „Verbündete“ bedeutet und eine Selbstbezeichnung von „privilegierten“ Personen ist, die Minderheiten im Kampf für ihre Rechte unterstützen. Sie unterscheidet „Allyship“ scharf von „wahrer Solidarität“, die auf gemeinsamen Prinzipien aufbaut, statt partikulare Eigeninteressen zu verfolgen. Es bleibt im Interview unklar, weshalb es keine solidarischen „Allies“ geben kann, setzen sich diese doch für Gruppen ein, denen sie selbst nicht angehören. Sieht man mal von „Allyship“ ab und versteht die „woken“ Kämpfe in erster Linie als Kämpfe partikularer Gruppen für ihre Eigeninteressen, wird das Argument nachvollziehbarer. Doch zeichnet das eine Demokratie aus: Gruppen stehen für ihre Interessen ein. Und Gerechtigkeit und Macht sind zwar definitiv nicht dasselbe, aber ebenso schwer voneinander trennbar.

    Kant vs. Foucault

    Dritter Vorwurf: Die Woken leugnen die Idee des Fortschrittes, vor allem den Fortschritt in der Vergangenheit. Intellektuell wird das flankiert, indem Neiman aufklärerische Denker wie Kant, Diderot und Rousseau gegen postmoderne Theoretiker antreten lässt. Es ist nicht schwer zu erraten, welche sie favorisiert. „Man verwechselt die Wirklichkeit des 18. Jahrhunderts mit den Denkern des 18. Jahrhunderts, die diese Wirklichkeit ändern wollen“, verteidigt sie leidenschaftlich die Philosophen der Aufklärung vor den aufklärungskritischen „Woken“. Kant etwa wird oft für seine rassistischen Äußerungen kritisiert. Neiman erinnert daran, dass er dennoch kein Menschenfeind war, und dass er und andere aufklärerische Denker in ihrer Zeit für ihre antirassistischen, subversiven und fortschrittlichen Ansichten bekannt waren. Ihr Appell, Fortschritte in der Geschichte anzuerkennen, ist auch als Mutmacher zu verstehen.

    Mit wenig Wohlwollen und einer Überdosis Unmut hingegen kritisiert sie Adorno und Horkheimer, Vertreter der Kritischen Theorie, und den vermeintlichen „Ahnherren der Woken“ Michel Foucault. Seine Analyse zu weniger sichtbaren Formen von Unterwerfung in der Moderne als Disziplinierung und Kontrolle etwa sei nichts als ein „billiger Trick, um klug zu wirken“, verunmögliche die Idee von Fortschritt und mache ihn zutiefst reaktionär.

    Die Anklagebank canceln

    Neimans Plädoyer ist wertvoll als Erinnerung, die Grundziele Universalismus, Gerechtigkeit und Fortschritt nicht aus den Augen zu verlieren. Allerdings ist das Bild von antiaufklärerischen, reaktionären, egoistischen Stammesdenkenden, die keine Bereitschaft zur Selbstkritik zeigen, viel zu undifferenziert und eindimensional gezeichnet. Da „woke“ undefiniert bleibt, verschafft das Neiman den Freiraum, eine Extreme, die sowieso schon polarisierend im Rampenlicht der Öffentlichkeit steht, als „woke“ zu erklären. Sie vergisst oder ignoriert das Potenzial, dass woke als Spektrum verstanden werden kann. Damit entgeht Neiman weder der Gefahr des Essenzialisierens, das sie den Woken vorwirft, noch einem „Woke-Bashing“, das sie eigentlich vermeiden möchte. Indem sie „alte“ und „neue“ Linke in einer dichotomen Struktur gegeneinander ausspielt und die angeklagte Seite als schuldig abführt, riskiert sie eine Debatte anzufachen, die schon erhitzt genug ist.

    Wenn es um eine Stärkung der Linken gehen soll, sollten vielleicht beide Seiten den Gerichtssaal verlassen und andere Verhandlungsformen in Betracht ziehen. Ob man sich als „woke“ oder „links“ bezeichnen möchte: Der gemeinsame Nenner, gegen Ungerechtigkeit und für Egalitarismus einzustehen, ist nicht zu unterschlagen.

    Susan Neiman: „Links ist nicht woke“. Aus dem Englischen von Christiana Goldmann. Hanser Berlin Verlag, 176 S., geb., 22,- €.

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