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  • „Zusammen ergeben wir ein Muster“

    In „Das achte Leben“ erzählt Autorin Haratischwili von acht Leben, sechs Generationen, einem Jahrhundert. Ein Abbild Georgiens, das den Hoffnungen und Ängsten in Zeiten des Umbruchs nachspürt.

    „Das achte Leben (für Brilka)“ ist ein historischer Roman, der den Blick weitet. Ist ein Brief – von 1.275 Seiten. Ein Buch, das es den Lesenden ermöglicht, ein Gefühl für die UdSSR und das Georgien des 20. Jahrhunderts zu entwickeln. Zeilen über Menschlichkeit, Liebe, Zweifel, Angst, Wut, blinde Überzeugung und Euphorie in Zeiten eines autokratischen Systems und gewaltsamer Unterdrückung jener, die sich zur Wehr setzten. 

    Die Familiensaga wird erzählt von der Ich-Erzählerin Niza. Sie lebt Anfang der 2000er Jahre in Berlin und schreibt in den acht Kapiteln des Buches die Geschichte ihrer georgischen Familie nieder – Für ihre Nichte, Brilka. Sie, die die Zukunft dieser Familie sein wird. Die Erzählung beginnt im Jahr 1900 mit der Geburt der Urgroßmutter Nizas, Stasia, Tochter des erfolgreichsten Schokoladenfabrikanten des kleinen Landes. Es folgt die Geschichte der Familie der nächsten 106 Jahre. Die Weltgeschichte der nächsten 106 Jahre. Die Kapitel des Buches tragen Figuren und Lesende um die Welt – nach Georgien, Russland, Lettland, England, Österreich bis nach Deutschland, Berlin 2006 zu Niza.  

    Niza beschreibt ihre tiefe Beziehung zur Urgroßmutter Stasia, die tanzte und Geister sah. Sie spürt den Geschichten nach, die auch sie in sich trägt. „Du bist ein Faden. Ich bin ein Faden. Zusammen ergeben wir eine kleine Verzierung. Mit vielen anderen Fäden ergeben wir ein Muster“, sagte einst ihre Urgroßmutter. Niza knüpft die Muster für Brilka und für jede*n, der*die das Buch liest, neu. Erzählt die Geschichten der Stärke ihrer Tanten, der Befangenheit ihrer Mutter, vom sturen Willen und innerer Zerrissenheit ihres Großvaters, von der Schönheit ihrer Schwester und der Gefahr, die diese barg, von der Einzigartigkeit Brilkas und von der Gemeinschaft ihrer Familie und des Landes, in dem sie geboren ist. 

    Lene liest ein Buch

    Die Geschichten Nino Haratischwilis lassen einen nicht mehr los. Foto: privat

    Es sind acht Bücher vereint in einem über tief empfundenen Schmerz, starke Frauen, abgöttische Liebe und die Gefahr eines Schokoladenrezepts, das alle Sinne betört, jede*n, der*die es kostet, gierig und willenlos zu machen scheint. Sie etabliert Figuren – so vollkommen in ihren Unzulänglichkeiten, ihrer Leidenschaftlichkeit, ihren Ängsten, ihrer Naivität, ihren Zweifeln, ihren ewig unerfüllten Träumen. Und erzählt ihre Geschichten im Ganzen – von der Geburt bis zum Tod. 

    Die Autorin dieses Buches, Nino Haratischwili, geboren 1989, ist eine georgisch-deutsche Theaterregisseurin, Dramatikerin und Buchautorin. Ihr 2014 erschienener Roman „Das achte Leben (für Brilka)“ ist der dritte Roman, den sie veröffentlichte. Und es verblüfft, dass es ein Roman und keine Biografie ist. Denn „Das achte Leben“ ist zwar nicht autobiografisch, doch historisch so akkurat, die Geschichten so lebensnah, dass die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion verschwimmen. Für das Leseerlebnis macht es kaum einen Unterschied, wie viel ihrer Familiengeschichte sich Nino und Niza tatsächlich teilen.  

    Denn Nino Haratischwili gelingt hier etwas Wunderbares: Sie zeigt die inneren Kämpfe jeder Figur mit sich selbst, beschreibt die mal liebes- mal hasserfüllten Konflikte der Familie und verknüpft all das mit dem Geschehen des vergangenen Jahrhunderts – Oktoberrevolution, zwei Weltkriege, der Kalte Krieg, der Untergang der UdSSR. „Das achte Leben“ macht es den Lesenden möglich, einzutauchen in dieses Jahrhundert von Aufbruch und Zerstörung, vom Kampf der Ideologien. Und das ohne Wut, eher nachdenklich, in zarter und doch pointierter Sprache. In „Das achte Leben (Für Brilka)“ hat Niza „alle Worte aufgeschrieben, die (sie) besaß“. So wie Niza es am Ende ihres Briefes an Brilka schreibt, haben sie gemeinsam wahrhaftig „ein ganzes Jahrhundert durchquert“. 

     

    Grafik: Sara Wolkers

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