Die Hölle, das sind die mittelalterlichen Intellektuellen
Kolumnist Daniel hat ein Buch gelesen, dass er gar nicht unbedingt weiterempfehlen würde. Aber weil die Leseerfahrung so intensiv war, möchte er sie reflektieren. Und findet dabei viel Inspiration.
Lange bevor Kafka beklagte, dass ihn niemand reinließ (sei es im Gleichnis vom Türhüter oder seinen Romanen „Der Process“ und „Das Schloss“), hat ein italienischer Schriftsteller den Frust des Außenvorseins in mächtige Sprachbilder gekleidet: Dante Alighieri. Wir befinden uns im dreizehnten Jahrhundert. Dante, im Folgenden immer bei seinem Vornamen genannt, wird aus Florenz verbannt. Grund: Adelsbeef. Verarbeitet hat er das in seinem Hauptwerk, der „Göttlichen Komödie“. Meine Leseerfahrung war überwiegend beklemmend und doch glaube ich, dass es Gründe gibt, warum Dante auch Jahrhunderte später immer noch gelesen wird. Die „Göttliche Komödie“ ist ein Reise durch die Hölle, das Fegefeuer und den Himmel. Die Hölle ist der Ort der Verdammnis. Da kommt man bis auf ein paar Ausnahmen nie mehr raus. Im Fegefeuer wird Buße getan und dann geht’s hoch in den Himmel. Als katholisch geprägter Denker hat Dante mit den Kategorien seiner Zeit gearbeitet, was dafür spricht, dass er heute ziemlich outdated ist. Jedoch ist dies eine Frage der Interpretation. Wenn man die Reise als eine durch das eigene Innenleben deutet, gewinnt sie eine Aktualität, die erstaunlich ist.
Um das mit der Aktualität zu verdeutlichen: Ich glaube, wir vergessen schnell, dass die Menschen seit tausenden von Jahren denselben Durchschnitts – IQ und dieselbe emotionale Komplexität haben. Dennoch ist es heute schwer, sich vorzustellen, durch welche destruktiven Weltbilder ganze Jahrhunderte geprägt waren.
Ich gucke keine Horrorfilme mehr, aber allein, mit Dante und seinem Reiseführer Vergil durch die Hölle zu reisen, bringt sehr viele entsprechende Erinnerungen hoch.
Der sogenannte Läuterungsberg, das Fegefeuer, ist der spannendste Teil der „Göttlichen Komödie“. Dort erleben die Menschen Dinge, die quasi das Gegenteil der extremen Verhaltensweisen sind, denen sie im irdischen Leben gefrönt haben. Diejenigen zum Beispiel, die zu viel Party gemacht haben, müssen hungern. Mir kam dieser Läuterungsberg wie eine analoge Darstellung mancher Phasen unseres Lebens vor: Denn je mehr ich mich in bestimmte Verhaltensweisen hineinsteigere, desto größer ist oft das Mangelgefühl danach. Oder ich kompensiere ein bestimmtes Mangelgefühl, was an sich ja auch okay ist. Mir hat sehr gefallen, dass die Menschen, die den Berg hinaufsteigen, immer Loblieder für Gott singen. Das sollten wir auch wieder mehr tun. Nicht im religiösen Sinne, aber die Menschen in Dantes Fegefeuer wissen irgendwie, dass alles gut wird und halten sich die Utopie, die sie erwartet, immer vor Augen. Auch, wenn es bis dahin noch ein paar hundert Jahre dauert. Aber alles steuert auf etwas Gutes zu. Das gefiel mir als Gedanke sehr. Natürlich brauchen wir heute andere zwischenmenschliche und gesellschaftliche Utopien als das Himmelreich, aber die können wir in unserer Fantasie ja erschaffen. Mir persönlich gibt das sehr viel.
Der Himmel ist langweilig. Und es ist dunkel dort. Zumindest in den Bildern meiner Fantasie während des Lesens. Ich weiß, dass dem laut Dante nicht so ist. Aber irgendwie zeigt mein intuitives inneres Bild vieles: Ein Mensch wie Dante, der queere Menschen und Personen, die sich das Leben genommen haben, in die Hölle schmeißt, kann für mich nur eine beklemmende Vorstellung vom Himmel haben. Die Meinung des Verfassers der „Göttliche Komödie“ entsprach (entspricht?) zwar der Lehre der Kirche, aber das entschuldigt nichts.
Wie sich hier zeigt, ist die „Göttliche Komödie“ ein Werk mit unerträglich menschenfeindlichen Wertmaßstäben. Ich weiß nicht mal, ob ich eine Leseempfehlung aussprechen will. Einige Auszüge lohnen sich. Allein wegen der Sprache. Und der Symbolik: Der Wald als Ort des Übergangs, sowohl am Anfang der Hölle als auch am Ende des Fegefeuers. Und eines kann man Dante zugute halten: Er kritisiert den Reichtum der Kirche und die Verschwendung des Adels.
Alles in allem wirkt die „Göttliche Komödie“ für mich wie das Werk eines verbitterten Menschen in einer tiefen Krise. Insofern ist sie modern. Es gibt Momente, in denen wir anderen Menschen das Schlimmste wünschen (quasi die Hölle) und wir haben alle Sehnsucht nach dem großen Happyend. Im Himmel wird Dante von seiner großen und früh verstorbenen Liebe Beatrice erwartet. Das ist sein Happy End. Bevor es wieder runter auf die Erde und ans Schreiben geht.
Ich will gar nicht zu sehr für die „Göttliche Komödie“ werben. Was sie mir trotz ihrer absolut ekelhaften Abschnitte zeigt, ist, dass wir als Menschen trotz aller Fortschritte, die wir im Laufe der Geschichte gemacht haben (Akzeptanz queerer Menschen zum Beispiel), etwas in uns tragen, das gleich bleibt: Bestimmte Gefühlswelten, die unser Handeln bestimmen, ermöglichen und ausmachen. Dieser Gedanke ist irgendwie schön und inspirierend. Wir alle haben unsere Sehnsüchte und Abgründe, denen wir in unserer Fantasie Ausdruck verschaffen können. Das ist heilsam. Für Dante muss es heilsam gewesen sein. Auf Fame war er jedenfalls nicht aus; eine Begnadigung, die Jahre nach seiner Verbannung aus Florenz erfolgte, lehnte er ab.
Um es kurz zu machen: Die „Göttliche Komödie“ ist inhaltlich entsetzlich, aber formal sehr lohnend. Und ich denke nicht, dass man sie ganz lesen muss.
„Komödie“ heißt aus Dantes Sicht übrigens nur, dass alles gut ausgeht und nicht, dass Humor eine wichtige Rolle spielt. Davon hatte er auch eindeutig zu wenig.
Ein letzter Gedanke noch: Dante spricht von Gott als der Liebe, die alles durchscheint. Da stellt sich mir die Frage, wie er Liebe definiert hat. Für mich zeigt sich dadurch, dass nicht die Worte das Entscheidende sind, sondern das, was implizit durch sie zum Ausdruck kommt.
Fiktiver Epilog
Wir schreiben das Jahr 1321. Dante hat soeben die letzten Worte der „Göttlichen Komödie“ zu Papier gebracht. Er fühlt sich innerlich aufgewühlt von der jahrelangen Arbeit und sitzt auf seinem Schreibtischstuhl. Kein einziger Gedanke ist noch in seinem Kopf. Was für eine Erleichterung. Auf einmal geht die Tür auf und sein guter Freund und Verleger Carlo kommt herein.
„Na, Dante, wie gehts?“
Mist, denkt Dante, der macht immer so Druck.
„Gut, bin soeben mit einem wichtigen Werk fertiggeworden“, sagt er.
„Ja dann zeig mal!“
„Der Pergamentstapel liegt auf dem Tisch. Aber ich muss das noch überarbeiten.“
„Ach, wenn du das überarbeitest, vergehen nochmal zehn Jahre und bis dahin ist der Verlag pleite. Außerdem bist du zu penibel. Das passt sicher so, wie es ist.“
„Nein“, sagt Dante und lehnt sich erschöpft zurück. Er merkt nicht, wie er einschläft.
Als er erwacht, durchzuckt ihn ein Gedanke: „Verdammt, ich will überhaupt niemanden in die Hölle werfen, ich muss das unbedingt korrigieren. Aber interessant; wenn ich mir diesen ganzen kranken Stuss nicht von der Seele geschrieben hätte, wäre mir das nie bewusst geworden. Wo ist denn das Manuskript?“
Doch Carlo ist bereits mitsamt des Manuskripts verschwunden. Dante regt sich darüber so auf, dass er einen Schwächeanfall bekommt und verstirbt. Die „Göttliche Komödie“ erlangt schnell eine große Popularität.
Dante starb tatsächlich kurz nach der Fertigstellung seines Hauptwerks. Mir hilft die eben erzählte Fanatasievorstellung, dieses Buch nicht nur zu ertragen, sondern etwas zutiefst Sinnvolles aus ihm zu ziehen.
Titelbild: Dantes Portrait von Sandro Botticelli; Wikipedia/Public Domain
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