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  • Schon wieder Juli

    Über das Gefühl, dass alles immer weitergeht und nichts auf einen wartet, die Überforderung, vor einem Abschluss zu stehen, und große Freude.

    Es ist schon wieder Juli. Es ist auch schon wieder die Zeit gekommen, in der man sich einen schönen Sommer zur Verabschiedung wünscht, die Zeit, in der an heißen Montagen die Straßen leergefegt sind und man sich fragt, wo denn plötzlich alle hin sind. In der Bibliothek schieben die letzten tüchtigen Lernenden ihre Abendschichten, während die Brise des sanften Sommerregens hitzige Köpfe kühlt. 

    In Höchstgeschwindigkeit auf allen Kursen beginnt das Jahr gefühlt schon wieder, sich den grauen Tagen der zweiten Jahreshälfte entgegenzusehnen, während der Sommer doch gerade erst begonnen hat. 

    Wo ist nur die Zeit geblieben?”,  habe ich meine Mom damals oft vor sich hinsagen hören. Heute, drei Jahre nachdem ich ausgezogen bin, wache ich in meinem Bett auf und frage mich selbst, wie all diese Zeiten, die mich so geprägt haben, schon vorüber sein können.  Nie bin ich heute genau wie gestern, denke ich. Und eine Sehnsucht danach, Momente nochmal durchleben zu können, umspielt meine Erinnerungen von dem, was war. – Pure Euphancholie! -Das Gefühl gleichzeitig euphorisch aber auch melancholisch zu sein. 

    Es ist schon wieder Juli und bald bin ich Bachelorette. Mein Studium naht sich dem Ende und nur noch ein Monat, reich an Tastenanschlägen, trennt mich von einem weiteren Abschluss. Vor drei Jahren tanzte ich das erste Mal durch diese neuen Straßen, trank in Massen statt in Maßen und spürte, wie alles bröckelte, ob Erwartungen an mich, Bilder von mir, Grenzen, die ich zog, oder Manieren, die mir auferlegt wurden. Von zu Hause auszuziehen hieß, das Nest zu verlassen und mich endlich im Leben zu versuchen, das ich mir ausmalte. Noch immer höre ich dieses schallende Lachen jener Morgende nach den ersten Nächten als Studentin, immer noch spüre ich, wie diese unbekümmerten Herzen meiner Freunde und mir in meinem Bett nebeneinander aufwachten und bezaubert, wie auch verklatscht, von grenzenloser Freiheit in die nächste Wonne glitten. Leipzig ist l’amour.  

    Im Jetzt-Bächlein kann man die Zeit auch mal vergessen. Foto: privat

    Und die ersten Monate war es hier, als wäre man in einer gläsernen Blase, in der die Zeit der Ewigkeit weicht. Doch aus der Unfassbarkeit, erst eine Woche hier zu sein und schon so viel erlebt zu haben, wurde allmählich nur noch eine Verwunderung, dass doch erst wenige Monate vergangen sind und dann schließlich die Empörung, schon über ein Jahr in dieser neuen Stadt zu leben. Mittlerweile überspült mich eine Welle aus Erlebnissen und Emotionen, wenn ich zurückblicke, und während ich eigentlich stolz sein sollte, bald einen weiteren „Meilenstein” zu erreichen, kann ich immer noch gar nicht fassen, wo ich stehe. Doch es ist schon wieder Juli und in drei Monaten werde ich meinen Master beginnen. Allmählich begreife ich, dass die Zeit nicht auf mich warten wird, bis ich verarbeitet habe, was war. Sie wird auch nicht warten, bis ich begriffen habe, was sein wird, wenn es losgeht. Stehe ich vor einem Umbruch? Muss ich mir schon wieder Ziele und Missionen gesetzt haben und Vorfreude für das Neue schüren, was beginnen wird? Ich übe mich hin und wieder im Spagat, am Cossi rutsche ich schonmal in den Sand und freue mich, dass der Abstand zum Boden immer weiter abnimmt. Aber um diese Kluft, an der ich gerade stehe, zu überwinden, bräuchte ich einfach wesentlich mehr Beinlänge. Jene zwischen dem, was ich noch nicht loslassen will, und Neuem, auf das ich mich schon wieder einstellen müsste, dazwischen fließt das Bächlein des Jetzt. Würde ich mit ihm dahinströmen, könnte ich gar nicht mehr aufhören, es mir gutgehen zu lassen, wie eine Wahnwitzige äße ich jeden Morgen Schokolade zum Frühstück. 

    Als man noch zur Schule ging, konnte man sich Jahre lang vorstellen, wie sich in Zukunft alles anfühlen soll, doch wenn man dann plötzlich für sich selbst verantwortlich ist, rast man einfach so in neue Lebenssituationen, als hätte man einen Lachkrampf beim „ Mario Kart” Spielen und würde kurz die Steuerung vergessen. Plötzlich ganz woanders findet man sich neben der Strecke wieder und rollt kurz danach noch verdattert in einen grünen Panzer. Und dann nimmt alles von neuem Fahrt auf. 

    Dankbar und überfordert werde ich wohl einfach weiter stolpern müssen. Wenn es mir in zehn Jahren immer noch so geht, wäre vielleicht Zeit für einen klärenden Klosteraufenthalt. Aber bis dahin trage ich wohl die Bürde der Jugend.  

    Eine Hoffnung auf Klarheit birgt immer noch der Sommer. Denn wenn man es schafft, die Zeit einfach mal zu vergessen, dann wohl in diesen wenigen Monaten. Wie die Zäsur des Jahres, bringen sie Bilder, die sich in die Großhirnrinde brennen und Momente, die prägen.  

    Deshalb gibt es auch einen Grund zu riesiger Freude: Es ist schon wieder Juli. 

     

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