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  • Verlust und Freiheit

    Wie das Herz meiner digitalen Identität aus meinem Leben verschwand.
    Über ein anfängliches Gefühl der Unsicherheit und eine wohltuende Entdeckung.

    Nachdem ich mein Smartphone verloren hatte, war ich zuerst geschockt. Das ganze Draußen wirkte auf einmal auf mich ein. Keine Musik, kein Podcast, kein Instagram, keine Nachrichten in Gruppenchats, keine Bilder von Freund*innen, keine Fragmente von Fragesätzen auf dem Display. Der Blick nicht gerade ausgerichtet, sondern ständig abgelenkt durch die Umgebung, in jede Richtung schauend. Ich war nie der Typ, der nach unten auf sein Smartphone starrt, eher jemand, der sich die Kopfhörer reinmacht und apathisch in die Ferne schaut. Vorbei an den Mitmenschen, vorbei am Trubel der Stadt.

    Neben Musik war mein Smartphone mein Aktenschrank für das Leben da draußen. Termine, Notizen, kleine Alltagsideen, Bilder und Tonmitschnitte. Meine komplette digitale Verkörperung befand sich auf diesem von Steve Jobs in die Welt getragenen Heiligtum. Es brachte mich dazu, den Feed Stunden lang nach brauchbarer Information für meine abgestumpften Dopaminrezeptoren zu durchforsten.

    Trotzdem stellte sich bei mir schon nach ein paar Tagen ein gewisses Wohlwollen über die Situation ein. Niemals hätte ich freiwillig auf mein Smartphone verzichtet. Plötzlich fand ich ohne die konstanten Unterbrechungen durch unzählige Benachrichtigungen den Raum für innere Stille. Ich hatte wieder Platz zum Atmen und Zeit zum Denken. Fuhr ich an den See, oder ging spazieren, fühlte ich mich viel entspannter. Zuhause steht der Computer, der mich noch mit der Welt da draußen verbindet. Natürlich ist das Internet immer noch ein unverzichtbarer Teil meines Lebens. Nur findet dieser Teil abgesondert vom restlichen Leben an meinem Schreibtisch statt. Bin ich unterwegs, können mich keine lästigen Nachrichten mehr verfolgen.

    Natürlich gibt es Momente der Unsicherheit. Wenn ich kurz etwas Wichtiges klären möchte, oder bei Maps was nachschauen will. Doch dann denke ich wieder an die Scroll-Sessions in der Bahn, der Uni, oder an der Haltestelle. Dann bin froh, dass gerade nicht haben zu müssen. „Freed from desire”, denke ich mir, „mind and senses purified”. Danke Gala.

    Kolumnist Vincent sitzt mit einem Festnetztelefon auf einer Rampe

    Hallo, wer da? Foto: Fabienne Fiedler

    Somit ergeben sich dann ungewohnte Situationen. Einfach mal wieder auf gut Glück bei Freund*innen vorbeigehen und klingeln. Vielleicht ist jemand da und macht auf. Verabredungen haben auf einmal eine besondere Spannung. Umso größer ist die Freude, wenn man es schafft sich am See zu treffen, zu abgemachter Uhrzeit am abgemachten Ort. Das geht auch mal in die Hose, aber das gehört eben dazu und kann ebenso ungeahnte Kreativität wecken, wenn man eine Situation dann mal ohne Smartphone lösen muss.

    Dabei bin ich nicht völlig losgelöst vom Internet. Neben der Kommunikation über den Computer zuhause, schätze ich auch die Möglichkeit des unendlichen Musikgenusses durch diverse Streaming Dienste. Es müssen auch nicht gleich alle ihr Smartphone in den See schmeißen. Für mich habe ich entdeckt, dass es eher die permanente Anbindung ans Internet ist. Diese mal willentlich zu unterbrechen kann schon helfen. Bei einem Freund habe ich festgestellt, dass er oft einfach den Flugmodus einschaltet. So ist er mal ein paar Stunden offline, ohne gleich sein Smartphone zu Hause lassen zu müssen. Es können aber auch schon Zeitblocker helfen, die den Zugriff auf Apps nach einer bestimmten Zeit verhindern.

    Dabei sagt auch die Wissenschaft, dass ein völliger Verzicht auf ein Smartphone nicht notwendig ist. Julia Brailovskaia fand in einer Studie (Journal of Experimental Psychology: Applied, 2022) heraus, dass die Reduzierung der Bildschirmzeit Auswirkungen auf unser psychisches Wohlbefinden hat. Im Gegensatz zu Personen mit einer hohen Screen Time, kommen Symptome wie Schlaflosigkeit und Depression weniger ausgeprägt vor. Im Vergleich zu Probanden, die völlig auf das Handy verzichteten, konnten keine relevanten Unterschiede festgestellt werden.

    Also, wenn ihr das nächste Mal euer Smartphone verlieren solltet, lasst euch nicht von der anfänglichen Panik überzeugen. Vielleicht merkt ihr wie ich, dass es auch positive Seiten daran gibt. Manchmal muss man eben doch zum Glück gezwungen werden.

     

    Foto: Vincent Frisch

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