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  • „Ich bin anders normal. Und nur normal ist langweilig“

    Seit Monaten ist ADHS eines der Trend-Themen in Sozialen Medien. luhze-Redakteur Emin Hohl wollte wissen, was das mit Betroffenen macht und wie sie ihren Alltag mit ADHS meistern.

    „Wenn ich bewusst über etwas nachdenken möchte, denke ich ziemlich schnell nur noch ans Denken über das Denken und vergesse dann, worüber ich eigentlich nachdenken wollte“, erklärt Julia König, 23 Jahre alt, aus Leipzig. Julia bekam im Alter von sieben Jahren die Diagnose ADHS. „Als Kind habe ich nicht verstanden, was mit mir los ist“, blickt sie zurück. „Ich musste erst begreifen, dass ich an bestimmten Stellen anders ticke als meine Mitschüler*innen. Wenn man sich nicht konzentrieren kann, kann man sich nicht vorstellen, wie es ist, sich konzentrieren zu können.“  

    Konzentrationsschwäche ist neben Hyperaktivität und Impulsivität eines der drei Hauptsymptome von ADHS, der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Als Hauptursachen für die Störung gelten genetische Einflüsse und Teilschädigungen des Zentralen Nervenssystems. Zudem fanden und finden auch soziologische Faktoren wie die zunehmende Reizüberflutung und der gesteigerte Leistungsdruck moderner Gesellschaften Eingang in den wissenschaftlichen Diskurs um mögliche Ursachen für ADHS.  

    In Deutschlandleben ca. zwei bis sechs Prozent der Kinder und Jugendlichen und ca. zwei bis drei Prozent der Erwachsenen mit der Diagnose ADHS. Sowohl bei Jugendlichen als auch bei Erwachsenen rechnen Wissenschaftler*innen und Psycholog*innen allerdings mit einer hohen Dunkelziffer –  oft bliebe die Störung unentdeckt, was laut Bundesministerium für Gesundheit weitreichende Konsequenzen wie etwa „Schulversagen, Familienprobleme oder eine erhöhte Suchtgefahr“ zur Folge haben könne. Bei einer frühzeitigen Diagnose jedoch könne den betroffenen Kindern und Jugendlichen „durch intensive Betreuung und eine gezielte Behandlung der Symptome eine weitgehend normale soziale und schulische Entwicklung ermöglicht werden.“ 

    Trotz der in ihrem Fall frühen Diagnose machte Julia andere Erfahrungen. „Schulen sind überhaupt nicht auf Menschen mit ADHS eingestellt. Entweder du packst es irgendwie und ziehst mit oder du packst es nicht und hast dann einen schlechten Schulabschluss.“ Im Unterricht seien keine Angebote gemacht worden, anstelle von „intensiveren Erklärungen“ habe sie vor allem Ratschläge wie „Reiß dich mal zusammen“ oder „Konzentrier dich doch einfach“ bekommen – Ratschläge, die auf die fehlende Auseinandersetzung mit den Problemen von Menschen mit ADHS hinweisen. Ratschläge, die mehr Fragen aufwerfen, als Antworten geben.  

    Hier im Fröbel-Kinderhaus Groß und Klein trifft sich dei Elterngruppe ADS-Grünau.

    Probleme wie die Überforderung von Schulen im Umgang mit ADHS-Kindern werden auch in der „Elterngruppe ADHS – Grünau“ besprochen – einer Selbsthilfegruppe für Eltern, deren Kinder mit einer diagnostizierten ADHS leben. Zweimal im Monat trifft sich die Gruppe im -Fröbel-Kinderhaus Groß und Klein-, um über Probleme und Lösungsansätze zu sprechen, sich gegenseitig zu hinterfragen und sich gemeinsam über gelungene (Therapie-)Maßnahmen zu freuen. Zu einer Sitzung Ende März sind ausschließlich Frauen gekommen. „Das ist nicht ungewöhnlich“, erklärt Kornelia Stein, Leiterin in der Selbsthilfegruppe und selbst ADHS-Person. „Wir haben es hier in der Selbsthilfegruppe zu 99 Prozent mit Müttern zu tun. Viele Väter verlassen die Familien oft schon sehr früh, weil sie mit den Verhaltensmustern ihrer Kinder nicht klarkommen.“  

    Die Frauen nehmen an zwei zusammengeschobenen Tischen Platz, es gibt Softdrinks und Tee, Kekse und Gummibärchen. Die Gruppensitzung beginnt mit einer gut 45-minütigen Vorstellungsrunde. Erst stellen die Frauen sich und ihr Kind und im Anschluss dann das Thema vor, das sie mit in die Stunde einbringen wollen. Kornelia Stein, von allen schlicht „Konni“ genannt, moderiert die Runde; leitet von Person zu Person über und stellt erste Zwischenfragen. Schnell wird deutlich, dass die meisten Mütter sich schon länger kennen. Man duzt sich – es herrscht eine vertraute, fast schon familiäre Atmosphäre. Alle hören konzentriert zu, geben der jeweils redenden Person ausreichend Zeit, sich zu öffnen.  

    Im Anschluss an die Vorstellungsrunde geht Konni noch einmal auf die Frauen ein – gemeinsam werden individuelle und übergeordnete Ziele für die heutige Sitzung definiert. Eine Mutter etwa möchte sich auf den Termin mit dem Schulleiter und der Schulsozialarbeiterin vorbereiten. Zwischen ihrem Sohn und einer Mitschülerin komme es immer wieder zu Streitigkeiten und nun solle gemeinsam mit der Schule und den Eltern der Mitschülerin eine langfristige Konfliktlösung erarbeitet werden. Konni fragt in die Runde: „Was für Ideen haben wir?“  

    Was folgt, ist eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Verhältnis von Eltern, Kind, Lehrer*in und Schulsozialarbeiter*in. Wer trägt wann und wie die Verantwortung? Wie viel Eigenverantwortung kann den Kindern zugemutet werden? Wo muss die Schule mehr leisten, wo die Eltern? Wer darf was von wem erwarten? Es wird deutlich, dass es der Gruppe zu keinem Zeitpunkt darum geht, die Schule anzuklagen – im Gegenteil: Die Mütter versuchen, alle Beteiligten gleichermaßen in die Pflicht zu nehmen, auch sich selbst und die Kinder. „Wir müssen uns als Erziehungspartnerschaft verstehen“, sagt Konni, „nur so kriegen wir das hin.“  

    Eine andere Mutter spricht über die ersten Erfahrungen ihres Sohnes mit Medikinet – einem ADHS-Medikament für Kinder zwischen sechs und 18 Jahren. Sie berichtet von Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen und Übelkeit, aber auch von ersten Erfolgen – durch das Medikament könne sich ihr Sohn besser konzentrieren, habe nun deutlich weniger Probleme in der Schule und mit den Hausaufgaben. „Wir haben uns lange schwer getan mit der Einführung des Medikaments“, gesteht sie,  „haben erst andere Therapiemaßnahmen versucht.“ Heute jedoch denke sie, dass eine frühere Medikation sinnvoll gewesen wäre. „Man sieht einfach, wie viel leichter er sich tut.“ Aus der Runde kommt die Anmerkung, dass Medikamente häufig vorschnell „verteufelt“ würden, das aber „mit der Realität nichts zu tun“ habe. „Oft ist es eine große Erleichterung für die Kinder“, fügt Konni an. Die Runde stimmt zu.  

    Julia, so sagt sie, habe Schwierigkeiten mit dem Medikament gehabt. „Ich hatte kaum noch Appetit“, schildert sie, „und bis auf die Tatsache, dass ich mich besser konzentrieren konnte, war ich komplett out of world“. Sie habe sich deshalb schon zu Beginn ihrer Zeit auf der weiterführenden Schule entschieden, das Medikament abzusetzen und stattdessen eigene Strategien entwickelt, um mit ihrer ADHS zu leben. Sie wisse heute, was gut für sie ist und was nicht. Beispielsweise achte sie darauf, pro Tag nicht mehr als einen Termin zu haben. „So vergesse ich nichts und weiß genau, worauf ich den Fokus legen muss.“  

    Julia spricht gerne über ihre ADHS. „Dadurch, dass es bei mir schon so früh diagnostiziert wurde, gehe ich total offen damit um. Es macht mir sogar Spaß, andere daran Teil haben zu lassen.“ Es gehöre für sie auch ein Stück weit dazu, über die Störung zu sprechen – „gerade jetzt, wo alle beginnen, an sich selbst ADHS zu diagnostizieren.“ Sie begrüße es zwar, dass in Sozialen Medien zuletzt mehr über das Thema gesprochen wurde, aber wenn Leute an sich selbst ADHS diagnostizieren, fände sie das schwierig. „Nur weil man gerade hippelig ist, sollte man nicht vorschnell irgendwelche Aussagen tätigen“, das beeinflusse die Diskussion über ADHS und lenke sie in eine falsche Richtung. „Es entsteht ein Bild von ADHS-Menschen, das aus der Perspektive einer Betroffenen nicht richtig ist.“ Sie warnt vor Tests im Internet, empfiehlt stattdessen, sich professionell testen zu lassen. „Ich bin über Monate zum Psychologen gegangen, bis ich die Diagnose hatte.“  

    Wie wichtig eine solche Diagnose sein kann, wird auch in der Selbsthilfegruppe in Grünau besprochen. „Ich habe lange an mir gezweifelt. Erst die Diagnose hat mir gezeigt, dass das Verhalten meines Kindes nicht mein eigenes pädagogisches Versagen ist“, schildert eine Mutter. Viele der anwesenden Frauen hatten lange mit sich zu kämpfen, hatten Angst, bei der Erziehung ihrer Kinder versagt zu haben. „Alle wollen das perfekte Kind“ kritisiert eine andere Mutter, das sei anstrengend und übe Druck aus. Man müsse sich davon lösen, mahnt sie an und fügt hinzu: „Mein Ziel für meine Kinder ist, dass sie selbstdenkende Menschen werden, die einen Zugang zu sich selbst haben. Ich möchte nicht, dass sie zu Robotern der Gesellschaft werden.“ Eltern von ADHS-Kindern, das wird deutlich, befinden sich im ständigen Konflikt zwischen der Anpassung an und der Verschiebung von gesellschaftlichen Normen. Auch Julia mahnt: „Wir brauchen mehr Sensibilität. Die Gesellschaft muss sich auch auf uns zu bewegen.“  

    Elementar sei für sie deshalb, Betroffenen Fragen zu stellen. Wenn sie Personen erzähle, dass sie ADHS habe, merke sie oft, dass sie schnell in eine bestimmte Schublade eingeordnet werde. „Und dann verfahren die Leute auf eine bestimmte Art mit mir, ohne auf mich einzugehen. Dadurch ändert sich nichts. Dadurch bleibe ich immer Angehörige einer definierten Gruppe.“ Dabei sei das Spektrum von ADHS riesig. Es gebe nicht die eine Erkrankung, so Julia, „und ebenso wenig gibt es das eine Normal.“  

    Der Begriff der „Normalität“ kommt auch zum Ende der Gruppensitzung in Grünau zur Sprache. „Normal kommt von Norm“, erklärt Konni, „aber nur weil acht von zehn Leuten einer bestimmten Norm entsprechen, heißt das noch nicht, dass sie normaler wären als die anderen beiden.“ Der Diskurs um Normalität müsse sich verändern, ist man sich einig – es brauche ein neues Verständnis von dem, was normal ist. Konni schließt die Gruppensitzung, indem sie sagt: „Ich bin anders normal. Und nur normal ist langweilig.“ 

     

    Fotos: Emin Hohl

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