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  • Auf der subversiven Suche nach der verlorenen Zeit

    Kolumnist Daniel sitzt momentan viel im Park und übt sich dabei in Achtsamkeit und kritischem Denken.

    Ich sitze im Park vor dem Wilhelm-Leuschner-Platz. Meine Laune ist gerade mies. Man hört die Autos auf dem Stadtring und eine Straßenbahn quietscht vorbei. Plötzlich richtet sich mein Blick auf einen kleinen weißen Punkt, der über dem Boden schwebt. Faszinierend, wie er einfach durch die Luft segelt. Ich richte die Augen nach oben. Der Baum, unter dem ich sitze, bildet ein dichtes Blätterdach und aus diesem fallen sekündlich kleine, fast durchsichtige Samen, die vom Wind weitergetragen werden. Der Baum pflanzt sich fort. Auf einmal fällt mir auf, dass die Luft voller weißer Punkte ist, sie breiten sich ausgehend von den Ästen in alle Richtungen aus, landen im Gras. Meine schlechte Laune ist vergessen, direkt vor meinen Augen spielt sich etwas Wunderschönes ab und das erfüllt mich mit Freude.

    Kolumnist Daniel liegt mit ausgebreiteten Armen und geschlossenen Augen auf einer Bank und sonnt sich.

    Sich zu sonnen, will gelernt und errungen sein, findet Kolumnist Daniel.

    Szenenwechsel. Ich bin bei einem Lesekreis, wir sitzen in einem Stuhlkreis im Freien. Es dämmert. Ich klinke mich kurz innerlich aus und schaue in Richtung des Horizonts. Der Himmel ist weiß, durchbrochen von blaugrauen Wolkenflecken. Diese sich immer verändernde Unendlichkeit. Mir kommen kurz die Tränen, Gott sei Dank ist unsere Runde so groß, dass es niemandem auffällt.

    Dass ich zulasse, dass vergleichbar banale oder kleine Dinge solch einen Eindruck auf mich machen, ist für mich eine ganz neue Erfahrung. Wie oft wird das schon durch die äußeren Umstände verunmöglicht. Stress im Studium, Tunnelblick, ich muss in die Bibliothek, verbringe dort Stunden in einem Zustand, den man mit einer Vollnarkose vergleichen könnte, um danach festzustellen, dass sich immerhin neues Wissen in meinem Kopf befindet. Aber die Stunden dazwischen? Die sind weg, da ist keine Erinnerung vorhanden. Instrumentalisierte Zeit, die man wegwirft, um ein Ergebnis zu erzielen. Zwischendrin gibt’s ab und zu einen Moment der Euphorie. Der Jura-Nerd erwacht. ‚Wow, genau hier liegt das Problem. Ich liebe das Zivilrecht‘, schießt es mir dann durch den Kopf. Kurz Gänsehaut. Dann wieder Narkosespritze.

    Was hindert mich noch daran, mehr auf die kleinen Dinge zu achten, mich öfter der Schönheit im scheinbar Banalen zu öffnen? Vielleicht die allgemeine Tatsache, dass Zeit begrenzt ist? Der Ergebnisdruck, den ich mir selbst mache? Der gesellschaftliche Druck? Bill Gates? Doofer Witz, tut mir leid. Aber apropos Bill Gates, apropos Querdenker*innen, apropos Dinge, die die Nachrichten beherrschen und mit denen ich täglich konfrontiert bin: Wie oft bleibt da eine Fassungslosigkeit zurück, an die ich mich fast schon gewöhnt habe vor lauter Abstumpfung. Die Zeitung lesen, eine wunderbare Sache, aber wenn ein sich wiegender Grashalm die blanke Freude in mir hervorrufen kann, was macht dann diese Informationsflut, die all das Chaos auf der Welt in mein Gehirn spült, mit mir? Wo kann ich denn wirklich etwas bewegen? Wie oft ist es einfach eine prokrastinative Tätigkeit, Nachrichten zu lesen, irgendwas muss in den Kopf, damit der andere Stress, der des Alltags, mal in den Hintergrund rückt. Wäre es nicht besser, einige Stunden pro Woche mit Geflüchteten aus der Ukraine zu arbeiten und dafür nicht jedes Detail von Putins Militärstrategie in der Ukraine zu kennen?

    Ich muss wieder Herr meiner Zeit werden. Wer nimmt sie mir? Womit fülle ich sie? Was lösen Dinge in mir aus? Wo bestimmen die Ziele alles und ersticken den Prozess, das wirkliche Aufgehen in einer Sache? Wie viel Zeit habe ich, mich einfach mal (aufrecht und mit offenen Augen durch die Welt) gehen zu lassen?

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