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    Fürsorge als Gesellschaftsmodell. Bis zum 2. Januar läuft Yin Aiwens neue Ausstellung "The Value of Care" in der Galerie für Zeitgenössische Kunst.

    Die Ausstellung „The Value of Care“ muss man als ein außergewöhnliches Projekt beschreiben. Sie ist eine Erfahrung, bei der man sich selbst, die eigenen zwischen­menschlichen Bezieh­ungen und den eigenen Bezug zu Tech­nologie, Gesell­schaft und Me­dien hinterfragen muss. Als dies­jährige Gewinnerin des in­ter­nationalen Inform-Preises für konzeptuelles Gestalten hat Yin Aiwen die Möglichkeit bekommen, zwei ihrer Projekte vom 16. Oktober 2021 bis zum 2. Januar 2022 in der Galerie für Zeitgenössische Kunst (GfZK) zu präsentieren. Für die Umsetzung arbeitet sie insbesondere in Kooperation mit dem von ihr gegründeten Reunion Netzwerk und dem Kollektiv Elli Kuruş. In ihrer Arbeit nutzt Yin Aiwen spekulatives Design, eine Praxis, um Zukunftsideen sichtbar zu machen und kritisch die Gegenwart zu betrachten. Dabei setzen die spekulativ- künstlerischen For­schungs­projekte auf be­ziehungs­­orientiertes Design, um Verhältnisse zwischen Gesellschaft und digitalen Systemen neu zu denken. Das ist insbesondere in einer ihrer ersten Arbeiten „The Massage is the Medium“ des Jahres 2013 erkennbar.

    Während kräftige Hände den entblößten Rücken im Rahmen einer medizinischen, chinesischen Massage zer­glie­dern, eröffnet eine thera­peutisch monotone Stimme, wie die folgende Erfahrung und die auf einem Tablet gezeigten Szenen das Gefüge von Körper, Selbst, Gemeinschaft, Digitalem und Wirtschaft sezieren werden. Die 15-minütige Massage durch Yin Aiwen ist eine zwischen­menschliche Erfahrung, die im Kontrast zum Massenkonsum stehen soll. Es ist eine Performance und eine Inszenierung, in der das intime Verhältnis zwischen Masseurin und Massierter*m im Mittelpunkt steht und die gezeigten Bilder auf der Leinwand mitverfolgt werden können.

    Care, der zentrale Begriff der Ausstellung lässt sich mit Fürsorge, gar Fürliebe, übersetzen. Yin Aiwen folgt zudem der Definition aus Bernice Fishers Werk „Toward a Feminist Theory of Caring“, die Care als Praxis, die Welt zu erhalten, fortzusetzen oder wiederherzustellen, beschreibt. Daraus ergab sich der zweite Aspekt der Ausstellung, in dem die Idee, Beziehungen der gegenseitigen Fürsorge als gesellschaftliche Währung zu er­forschen, im Mittelpunkt steht. Initiiert vom Reunion Netzwerk entstand 2021 das Rollenspiel „Liquid Dependencies: What does a decentralized caring society look like?“

    Zu Beginn erhalten die Spieler*innen Charakterkarten, die ihren bisherigen Status in der Gesellschaft festlegen mit Angaben zu Beruf, Alter und somit zu deren finanzieller Sicherheit und zeitlichen Verfügbarkeit. Auf Grundlage ihrer eigenen Lebenserfahrung hauchen die Besucher*innen ihrer Rolle Leben ein und bauen innerhalb des Spiels Beziehungen zueinander auf. Um dem ganzen einen Wert zu geben, erhalten alle Partizipierenden symbolische, teilbare, farbige Münzen, die repräsentativ für geformte Beziehungen vereint werden können und dann als zusätzliche Währung gemeinsam ausgegeben werden können. So wird ein Moment des Konsums zu einem Moment der Fürsorge.

    Innerhalb des Spiels vergehen in vier bis fünf Stunden circa 20 bis 30 Jahre im Leben der Charaktere. Man altert zusammen, lernt neue Dinge und durchläuft persönliche und gesellschaftliche Erlebnisse. Um die in Shanghai ent­standene erste Version nach Leipzig zu bringen, wurde das Rollenspiel für den lokalen Rahmen mit Hilfe von Elli Kuruş abgeändert. Beispielsweise gibt es in der Leipziger Version Hartz-IV-­Em­pfänger*innen als Charak­te­re und Küchen für Alle als Dienstleistungen. „Man geht anders aus den Spielen hervor und betrachtet die eigenen Beziehungen aus einem neuen Blick­winkel“, lautet das Feedback aus den Probespielen. Jeweils samstags finden sie kostenlos in englischer Sprache statt. Die Teilnahme erfordert eine verbindliche Online-Anmeldung.

    Foto: Yannan Pan

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