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  • „Die Erschöpfung kommt nach dem Stress“

    Drei Semester ohne Präsenz liegen hinter den Leipziger Studierenden. Der Psychologe Pablo Paolo Kilian hat mit luhze über die Folgen der Pandemie und die Rückkehr in unser gewohntes Leben gesprochen.

    Seit einem halben Jahr nehmen überdurchschnittlich viele Studierende die psycho­so­ziale Beratung des Studenten­werks Leipzigs in Anspruch. Die Beratungsstelle versucht seitdem, allen Anfragen gerecht zu werden, doch klar ist: Die Pandemie hat Spuren in uns hinterlassen. luhze-Redakteurin Charlotte Paar hat mit dem Psychologen Pablo Paolo Kilian von der Psychosozialen Beratungsstelle über Sorgen von Studierenden, psychische Belastungen und Alltagsstrukturen gesprochen.

    luhze: Eine Langzeitstudie des Arbeitspsychologen Hannes Zacher von der Universität Leipzig hat gezeigt, dass die Lebenszufriedenheit und das Erleben positiver Gefühle durch die Pan­demie abgenommen haben. Wie haben Sie das in der psychosozialen Beratung wahrgenommen?
    Kilian: Es ist auf jeden Fall eine Veränderung erkennbar. Im Frühling des letzten Jahres war die Stimmung noch hoffnungsvoll, weil davon ausgegangen wurde, dass wir diese Krisensituation nur kurzzeitig durchstehen müssen. Daher kamen vorerst gar nicht so viele Beratungsanfragen. Erst nachdem ein paar Wochen des ersten Lockdowns vorüber waren, wurde die Belastung stärker. Langsam trat die Realisation ein, dass die Pandemie uns alle betrifft und länger andauern wird. Die Situation der Studierenden hat sich seitdem erheblich verschlechtert.

    Mit welchen Problemen waren Studierende plötzlich konfrontiert?
    Die Themen haben sich grundsätzlich gar nicht so stark verändert, aber sie wurden deutlich existenzieller. Viele Studierende verloren Nebenjobs und damit auch ihre finanzielle Basis. Dazu kam die soziale Isolation, die Umstellung zur digitalen Lehre und die Unsicher­heit darüber, wie es zukünftig weitergehen wird. Und dann ist es so, dass Menschen ja eh schon Probleme haben. Die Pandemie war nur ein erneuter Auslöser und Verstärker dieser. Bei vielen Studierenden wurde eine Bewäl­ti­gungsschwelle ü­ber­schritten, was eine allgemeine Hilflosigkeit zur Folge hatte.

    Welche Studierendengruppe ist besonders von dieser Problematik betroffen?
    Die Situation betrifft grundsätzlich alle Studierenden. Allerdings können wir beobachten, dass Studienanfänger*innen be­s­­­onders stark unter den Auswirkungen der Pandemie leiden. Sie befinden sich meist noch stärker in einer vulnerablen Lebensphase, dem Übergang in die Erwachsenenwelt. Diese Phase dient der Orientierung und ist ganz normal, um zu schauen, ob das Studium und grundsätzlich das Studieren auch zu einem passt. Wenn bei den Studienanfänger­*innen jetzt Schwierigkeiten aufgetreten sind, dann wussten die Betroffenen nicht, ob zusätzliche pandemische Belastungen oder Studienzweifel die Ursache sind. Diese Orientierungsphase fehlt ihnen, aber sie ist notwendig.

    Studierende werden in den Medien häufig als die „vergessene Gruppe“ bezeichnet. Wie würden Sie diese Aussage einschätzen?
    Es ist tatsächlich auch unser Eindruck, dass die Studierenden durch das gesellschaftliche Raster fallen. Für Schüler*innen gibt es ein Nachsorgepaket und Arbeitnehmer*innen werden Kurz­arbeitsregelungen und Lohn­aufstockungen zugesprochen. Die Studierenden fallen in keine dieser Gruppen und somit durch das Raster. Hinzu kamen individuelle Belastungen und die fehlende Struktur von außen. Studierende müssen sich eigenständig organisieren und motivieren, jedoch ist es eine besondere Herausforderung, da dranzubleiben. Die Gesellschaft schreibt den Studierenden aufgrund ihres akademischen Status eine intellektuelle Leistungs­fähigkeit und soziale Sicherheit zu und es wird angenommen, dass sie aufgrund dessen Krisensituationen besser bewältigen können – dabei handelt es sich um einen psychologischen Fehlschluss. Die individuelle psychische Belastung ist unabhängig vom Bildungsstand.

    Wie hat sich die Auslastung der psychosozialen Beratung während der Pandemie entwickelt?
    Zu Beginn des ersten Lockdowns war noch kein Anstieg der Anfragen zu erkennen, sogar eher ein kleiner Rückgang. Viele Studierende wollten einfach erstmal durchhalten, abwarten bis Präsenztermine in der Beratungsstelle wieder möglich sind und versuchten, die ungewohnte Situation mit ihren eigenen Strategien zu bewältigen. Bei vielen war das jedoch auf Dauer nicht möglich. Die Auswirkungen dieses Lockdowns haben sich dann erst zeitversetzt im Winter gezeigt. Die zweite Welle verstärkte die Belastung zusätzlich, wodurch die Bewältigungsschwelle bei vielen Studie­renden überschritten wurde. Seitdem erreichen uns extrem viele Anfragen. Eine Stichprobe, die wir durchführten, zeigte, dass 48 Prozent der Personen, die sich bei uns gemeldet haben, ein Anliegen hatten, das durch Corona mitbedingt war. Da wir bereits vor der Pandemie komplett ausgelastet waren, konnten wir den Anfragen aus personellen Gründen gar nicht mehr nachkommen. Dadurch sind Wartezeiten von etwa drei Monaten bis zu einem Erstgespräch entstanden. Das ist dramatisch, vor allem vor dem Hintergrund, dass die Personen dringende Unterstützung brauchen. Es blieb somit nur die Möglichkeit, unsere offenen Telefonsprechzeiten zu nutzen, in denen Studierende immerhin zwanzig Minuten lang Beratung erhalten.

    Die Inzidenz in Leipzig war in den vergangenen Wochen sehr niedrig und es wurden Öffnungsschritte eingeleitet. Geht es den Studierenden nun wieder besser?
    Ich erlebe die Zeit gerade als Übergangsphase. Die Lockerungen und das Sommerwetter wirken sich positiv auf die Stimmung aus. Soziale Interaktionen sind teilweise wieder möglich. Allerdings erkennen wir in der Beratung, dass die dramatischen Situationen und Überlastungen, die durch die Pandemie verursacht wurden, erst später von den Betroffenen verarbeitet werden können. Viele realisieren teilweise erst nach der Einwirkung der Belastung, was wirklich los war. Vorher befanden sie sich in einem Durchhaltemodus. Die Erschöpfung kommt schließlich erst nach dem Stress. Daher werden die individuellen Auswirkungen der Pandemie noch lange nachwirken, selbst wenn wir die Pandemie irgendwann bewältigt haben sollten.

    Also stellt die Rückkehr in unser gewohntes Leben erneut eine psychische Belastung dar?
    Es ist eine erneute Umstellung. Während der Einschränkungen hatten wir viel Zeit, uns mit uns selbst auseinanderzusetzen. Wir mussten durch die Pandemie lernen, Strategien zu entwickeln, die nun zu einer funktionierenden Struktur geworden sind. Man sollte diese Übergangszeit als Chance sehen, diese beizubehalten und weiterhin in den Lebensalltag zu integrieren. Das bedeutet beispiels­weise, kleine Rituale und Genussmomente einzubauen und achtsamer zu sein. Unter Studierenden ist der soziale Druck groß und es fällt vielen schwer, auch mal nein zu Events zu sagen. Nun gilt es, eine Balance und Ausgeglichenheit zu schaffen, die weniger vom sozialen Netz abhängen.

    Aber unter den Studierenden besteht doch nun nach einem Jahr Kontaktverbot erst recht der Druck, auf jeder Party zu tanzen.
    Dieser Impuls ist auch absolut verständlich. Viele Studierende berichten von der Überforderung, die sich aus dem Gefühl ergibt, die soziale Interaktion des verlorenen Jahres in kurzer Zeit aufholen zu müssen. Es ist ein über lange Zeit aufgeschobenes Bedürfnis. Jedoch ist das Nachholen von Erfahrungen in dieser Form nicht möglich. Die jetzige Generation hat leider ein Defizit, das einfach nicht mehr änderbar ist. Und auch wenn dieses Problem häufig als unwichtig abgetan wird, muss es ernst ge­nommen werden und Ge­sprächsraum bekommen.

    Gibt es Angebote, die mich bei der Strukturierung meines Alltags unterstützen?
    Um Studierende bestmöglich zu unterstützen, haben wir das Workshopangebot im letzten Jahr etwa verdreifacht und viele digitale Angebote initiiert. Es gibt tagesstrukturierende Gruppen, wie zum Beispiel „Kick-Start in den Tag“, wo sich Studierende unter psychologischer Begleitung dreimal pro Woche online treffen können, um sich über ihre Tagesgestaltung auszutauschen. Das hat viele besonders in der Zeit der Beschränkungen inspiriert. Und es gibt auch weitere strukturstützende Maßnahmen. Da ist die Schreibwerkstatt, in der sich Studierende vernetzen, die gerade an Haus- oder Abschlussarbeiten schreiben. Oder das „Speed-Dating für Lerntandems“, das vor allem von Studierenden in sozialer Isolation gut angenommen wird, da es ihnen dabei hilft, Kontakte zu knüpfen und sich mit anderen Kommiliton*innen für Lerngruppen auszutauschen.

    Woher weiß ich, dass meine Probleme groß genug sind, um die psychosoziale Studienberatung aufzusuchen?
    Grundsätzlich raten wir immer: Wenn Sie darüber nachdenken, dann können Sie es ausprobieren. Wir ermuntern die Studierenden dazu, sich frühzeitig zu melden, da die Belastung dann noch nicht so groß ist und die Verbesserung der Situation leichter fällt. Wir sind ein ganz niedrigschwelliges Angebot, das unabhängig von der Krankenkassenabrechnung funktioniert. Daher müssen Sie keine psychische Erkrankung haben, um sich bei uns zu melden. Wir arbeiten gerne präventiv, so können kleine Probleme gelöst werden, um langfristige Stabilität zu erreichen. Und da wir beim Studentenwerk gemeinsam mit anderen Beratungsstellen, wie zum Beispiel der Sozialberatung, arbeiten, können wir die Studierenden leichter zu ihren idealen Ansprech­partner*innen verweisen.

    Hochschuljournalismus wie dieser ist teuer. Dementsprechend schwierig ist es, eine unabhängige, ehrenamtlich betriebene Zeitung am Leben zu halten. Wir brauchen also eure Unterstützung: Schon für den Preis eines veganen Gerichts in der Mensa könnt ihr unabhängigen, jungen Journalismus für Studierende, Hochschulangehörige und alle anderen Leipziger*innen auf Steady unterstützen. Wir freuen uns über jeden Euro, der dazu beiträgt, luhze erscheinen zu lassen.

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