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  • „In Deutschland herrscht koloniale Amnesie“

    Die AG Leipzig Postkolonial engagiert sich für die Aufarbeitung kolonialer Geschichte. Sie möchte Umbenennungs- und Gedenkprozesse anstoßen und so auch aktuelle Rassismen bekämpfen.

    Die Arbeitsgemeinschaft Leipzig Postkolonial entstand 2011 im Rahmen einer Diskurs-Werkstatt zu postkolonialer Theorie an der Universität Leipzig. Aus dem Bedürfnis heraus, Leipziger Erinnerungsorte aufzuarbeiten, entsprang die Idee, einen Stadtrundgang zu entwickeln, der über koloniale Ereignisse und Relikte in Leipzig aufklärt.

    Heute engagieren sich in der AG circa zehn bis zwölf Menschen ehrenamtlich, wobei fünf oder sechs den harten Kern ausmachen. Jona, die beispielsweise Stadtrundgänge leitet, investiert ungefähr sechs Stunden Zeit die Woche; die AG ist ihr eine Herzensangelegenheit. Die AG suche immer Leute, die sich gerne einbringen möchten. Einmal im Monat findet für Interessierte ein offenes Plenum statt.

    „In Deutschland herrscht eine Art koloniale Amnesie. Die deutsche Kolonialgeschichte wird weitestgehend ausgeblendet. Das ist interessant, weil historische Aufarbeitung in Deutschland vermeintlich eine große Rolle spielt, die sich allerdings fast nur auf das Deutsche Reich konzentriert. Im Schulunterricht wird das Thema Kolonialzeit kaum behandelt“, erklärt Jona, die seit zweieinhalb Jahren in der AG aktiv ist.

    Konkret möchte die AG, dass die Gesellschaft über den deutschen Kolonialismus aufgeklärt wird und dass Gedenk- und Umbenennungsprozesse stattfinden. So zum Beispiel bei Straßennamen, die teilweise noch nach entscheidenden Figuren aus der Kolonialzeit benannt sind, oder Namen tragen wie die „Mohrenstraße“ in Berlin. Neben Stadtrundgängen organisiert die AG auch Veranstaltungsreihen und Workshops, hält Mahnwachen und übernimmt Redebeiträge bei Demonstrationen. Die Angebote sind in der Regel frei zugänglich und kostenlos. Die AG finanziert sich in erster Linie durch Spendengelder und projektbezogenen Fördergelder.

    Laut Jona sind die meisten Teilnehmer*innen der Stadtrundgänge bereits für die Thematik sensibilisiert. Bei Gruppen ohne Vorwissen herrscht jedoch auch mal Ignoranz gegenüber vorkolonialen Zuständen und ein stereotypes Bild von Afrika. Das hängt, so erklärt Jona, damit zusammen, dass wir immer noch in Strukturen leben, die sich auf die rassistische Legitimierung von Ungleichheiten stützen. Die Aufklärung über Kolonialgeschichte sei so wichtig, weil postkoloniale Abhängigkeiten bis heute eine große Rolle spielen: „In der Kolonialzeit entstandene Macht- und Gewaltstrukturen bestimmen bis heute globale Machtverhältnisse. Nicht nur auf politische und wirtschaftliche, sondern auch auf diskursive Art.“

    Auf Twitter postet die AG koloniale Funde aus ganz Leipzig, aber auch Produkte, die mit stereotypischen Bildern Marketing betreiben. So zum Beispiel die „Afrika-Schokolade“ von Bahlsen. Allerdings hat die Gruppe auch die „Burenschänke“ entdeckt, einen Kleingartenverein in Neustadt-Neuschönefeld, der sich zu Ehren der Buren (europäische Kolonialisten in Südafrika) benannt hat. Wenn die AG auf koloniale Relikte oder rassistische Objekte und Formulierungen aufmerksam wird, versucht sie die jeweiligen Adressat*innen auf verschiedenen Kanälen zu erreichen. Zum Beispiel hat Leipzig Postkolonial einen Brief an den Zoo Leipzig geschrieben, der „Afrikanische Nächte“ veranstaltet und die eigene Geschichte der Völkerschauen, laut Jona, nicht genug aufarbeitet und öffentlich macht. Allerdings gibt es – wie im Falle des Zoos – oft keine Reaktion. Ein Positivbeispiel sei jedoch das Leipziger Missionswerk, das eine Station bei den Stadtrundgängen ist. Der Direktor des Werkes ist auf die AG zugegangen, um mit ihr über die Problematik der Mission im kolonialen Zusammenhang ins Gespräch zu kommen.

    In Leipzig steht die Aufklärungsarbeit noch ganz am Anfang, doch die AG Leipzig Postkolonial ist nicht die einzige ihrer Art. Deutschlandweit sind die unterschiedlichen Gruppen im Bündnis „decolonize“ organisiert, das auf Facebook präsent ist.

    Für die Zukunft plant die AG einen Stadtrundgang zu Postkolonialismus und Klimagerechtigkeit. In diesem soll es um die Zusammenhänge von kolonial errichteten Strukturen und der aktuellen Ausbeutung von Ressourcen und global unterschiedlich schwerwiegenden Auswirkungen des Klimawandels gehen. Noch bis zum 31. August findet in der Galerie KUB eine Fotoausstellung zu gestohlenen Überresten menschlicher Gebeine aus Australien zu statt, die von Leipzig Postkolonial organisiert wird.

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