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  • Stell dir vor, du sitzt ihnen gegenüber

    Was passiert, wenn man auf Hasskommentare reagiert, anstatt sie zu ignorieren? Kolumnistin Leonie hat es ausprobiert.

    „Nervige Ökogöre!“, „das kleine Naivchen“, „Nimm sie fest!“, „Ohje, die Psychopathin aus Bullerbü“. So und weiter wird die 16- jährige Schwedin Greta Thunberg, die sich international für Klimaschutz einsetzt, unter einem Artikel von SPIEGEL ONLINE auf Facebook beschimpft.

    Ich stelle mir vor, Menschen würden diese Dinge auf offener Straße sagen. Würde ich wegschauen? Ein schlechtes Gewissen haben? Würde ich meine Meinung sagen?
    Die Kommentarspalten unter den Artikeln der großen Medien auf Social-Media-Plattformen wie Facebook sind wie öffentliche Plätze. Sie sind wichtig, damit Leute zu den Themen der Artikel diskutieren, ihre Meinung kundtun und Kritik üben können. Das gehört zum demokratischen Grundverständnis dazu. Anders als in der realen Welt fällt es den meisten jedoch auch leichter, im Internet unüberlegte und herablassende Beschimpfungen zu äußern.

    Nachdem ich die Kommentare unter den Artikeln in meinem Facebook-Newsfeed lange bewusst ignoriert habe, begann ich sie vor Kurzem zu lesen und meine Erwartungen wurden wahr. Egal ob zu Themen wie Migrationspolitik, Umweltschutz oder Feminismus – überall Hasskommentare, Pauschalisierungen, Hetze und Unverständnis. „Relotiusmedien“ und wissenschaftlich bestätigte Fakten wie die Existenz des Klimawandels werden angeprangert. Ich ärgere mich über die Kommentare, denke oft: „Das kann man doch so nicht einfach stehen lassen!“ Doch mich getraut, selbst etwas zu schreiben, habe ich nie. Trotzdem weiß ich wie wichtig es ist, Rassismus, Sexismus und Hass nicht das Feld zu überlassen. Denn wenn ich zwischen den ganzen Hasskommentaren einen konstruktiven, gut argumentierten Kommentar finde, von einer Person, die den Internet-Trollen eben nicht das Feld überlassen will, bewundere ich diese und bin ihr dankbar.
    Bevor ich aber nun an alle appelliere, sich ab und zu in die Kommentarspalten auf Facebook und Co. einzumischen, mache ich erst einmal einen Selbstversuch. Drei Tage lang lese ich jeweils für mehrere Stunden die Kommentarspalten unter Artikeln von SPIEGEL ONLINE, der ZEIT, Tagesschau oder auch RTL oder der BILD-Zeitung. Ich fange an, Kommentare, die ich gut finde, zu liken. Somit kommen sie im Algorithmus weiter nach oben und ich mache mich nicht direkt angreifbar. Denn davor habe ich Angst. Es ist ungewohnt, so öffentlich seine Meinung kundzutun und sich dann auch noch eventuell von anderen dafür beschimpfen zu lassen.

    Kolumnistin Leonie Asendorpf will von jetzt an häufiger ihren Senf dazugeben.

    Ich hole mir also Hilfe bei der Facebook-Gruppe #ichbinhier. Über 45.000 Nutzer*innen aus dieser Gruppe engagieren sich für eine bessere Diskussionskultur in den Kommentarspalten der großen deutschen Medien auf Facebook. Es wird sich gegenseitig ermutigt, unterstützt und mit guten Argumenten ausgeholfen. Jeden Morgen werden neue Links zu aktuellen Artikeln, unter denen am meisten Diskussionsbedarf besteht, im sogenannten „Lagerfeuer“ in die Gruppe gepostet. Darunter werden die, von Mitgliedern der Gruppe geschriebenen Kommentare verlinkt, damit sie von anderen Mitgliedern geliked werde können. Das Hashtag zu setzen ist keine Pflicht, hilft aber ebenfalls beim schnellen Finden von konstruktiven Kommentaren. Ich erwische mich dabei, wie ich denke „Ist das nicht Zeitverschwendung? Bringt das wirklich was?“ Ich glaube mittlerweile, ja. Da der Blick auf die Kommentare unter einem Artikel Meinungen und die öffentliche Wahrnehmung bestimmter Themen prägen kann.

    Am ersten Tag meines Versuchs mache ich direkt den ersten Fehler. Unter dem Artikel von SPIEGEL ONLINE über die Anreise der schwedischen Umweltaktivistin Greta Thunberg nach Hamburg antworte ich auf den „nervige Ökogöre“-Kommentar, verteidige Greta und bekomme nur einen Lach-Smiley und ein „Ihr seid alle hysterisch, die Welt geht unter, hortet Dosenfutter“. Ich hätte mir auch gleich denken können, dass Leute, die so einen Kommentar schreiben, gar nicht mit sich reden lassen. Trotzdem ernüchtert mich der Kommentar kurz.

    Am nächsten Tag mache ich weiter. Ich suche gezielt nach Kommentaren, die mehr danach klingen, als könnte man noch diskutieren. Unter einer Facebook-Meldung von RTL zu der gestiegenen Anzahl von Menschen, die sich aufgrund vermeintlich gestiegener Kriminalität von Geflüchteten in Deutschland einen Waffenschein ausstellen lassen, versuche ich mit Statistiken und Argumenten weiter zu kommen. Die Likes der #ichbinhier-Gruppe ermutigen mich. Ich fühle mich nicht allein gelassen. Es geht nun schon besser.

    Sich anderen Meinungen zu stellen ist unbequem. Aber wichtig. Sowohl im Internet als auch, und vor allem, im realen Leben und in Gruppen, in denen nicht alle gleich alt, gleicher Meinung und gleichen Aussehens sind. Denn wenn Menschen sich gegenseitig immer nur in ihren eigenen Überzeugungen bestätigen, kommt es zu keinem Austausch. Und dieser ist meiner Ansicht nach essenziell. Ändern kann man Meinungen meist nicht, und darum sollte es primär auch nicht gehen. Sondern darum, sich zuzuhören, respektloses Verhalten anzuprangern und konstruktiv zu diskutieren.
    Ich nehme mir vor, von nun an öfter mal meinen Senf dazuzugeben. Und vielleicht denkt der „Ökogöre“-Kommentator ja das nächste Mal auch ein bisschen länger nach, bevor er etwas schreibt.

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