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  • „Schnaps“, das war sein letztes Wort

    Keine Hipster, aber billiges Bier und Korn gibts im „Optiker“

    Es ist Mittwoch Nachmittag. Sachsen feiert den Buß- und Bettag. Studenten an der Uni Leipzig und an anderen Hochschulstandorten des Freistaates freuen sich über den vorlesungsfreien Tag, während in allen anderen Bundesländern die Kommilitonen die Campusse bevölkern.
    Nicht so in Leipzig. Bereits am Vorabend hatte der herkömmliche Studiosius die Möglichkeit, in dem für ihn extra hergerichteten „Stuk“ in diesen Feiertag, der ursprünglich dazu genutzt wurde, um auf Not und Elend aufmerksam zu machen, hinein zu feiern. Doch man ist noch jung und durstig und überlegt, die ersten Vorlesungen am nächsten Unitag auch noch ausfallen zu lassen, um noch ein wenig dem Bier frönen zu können. Doch wo hingehen?

    Feiertagsbier im „Optiker“
    Die Moritzbastei lädt ein zu der Veranstaltung „Los! Tanzen! Am Bass- und Beattag“. Wie schon der Titel vermuten lässt, wird man da wahrscheinlich auf die gleichen Party-Hipster treffen, über die man sich bereits im „Stuk“ lustig gemacht hat. Gibt es denn keine Möglichkeit, diesem Milieu zu entfliehen und dennoch zu günstigen Studentenpreisen sein Hopfengetränk zu genießen? Klar gibt es eine Lösung. Das ist Leipzig, Diggi! Idealerweise kennst du bereits einen Mittdreißiger, der schon arbeitet und während des Feierabendbieres seinen Charles Bukowski-Traum leben möchte. Und dieser nette Mensch nimmt dich dann an diesem Feiertag mit in den „Optiker“.
    Gleich gegenüber  des westseitlichen Ausganges des Hauptbahnhofs, vorbei an den Crystal-Meth-Junkies befindet sich die Anti-Hipsterlokalität. Denn dass sich hierhin normalerweise keine Hipster verirren, wird dir schon am Eingang klar: Der Kneipenname ist noch schön in Fraktur geschrieben. Zugleich wird darauf aufmerksam gemacht, dass man hier noch mit D-Mark zahlen kann, was, wie die Bardame später bestätigt, auch noch 1-2 Mal im Monat vorkommt. Für alle jungen Menschen:  D-Mark ist übrigens die Währung, die es wieder geben wird, wenn Italien pleite geht oder Le Pen Präsidentin von Frankreich wird.

    optiker123/7 geöffnet
    Du gibst dir und der knarzigen Tür einen Ruck und betrittst an diesem 0815-Feiertag eine Welt außerhalb der typischen Studentenkneipe mit Kickertischen und Beer-Pong. Die Uhr hat noch nicht 17 Uhr geschlagen und dieser Zeitpunkt ist nur mit etwas Fantasie als „früher Abend“ zu bezeichnen. Dennoch ist die Theke komplett voll. Nur ein Tisch am Eingang ist noch frei. An den Wänden prangen Fotografien aus der Kaiserzeit und Schilder mit der Aufschrift „Sozialamt“ oder „Obdachlosenamt“. Dass hier von der modernen Welt Gestrandete einkehren, kann dein Mittdreißiger-Freund bestätigen. Der erinnert sich noch an folgenden Dialog, den er eines Abends mit anhörte: „Du bist ja jeden Abend hier, musst du nicht zu deiner Frau?“ „Zu der blöden Kuh geh ich erst wenn sie schläft, die macht mir mein Bier kaputt.“ Tatsächlich sind bis auf die Bardame, die mit den Gästen schäkert und raucht, sind keine anderen Frauen anwesend. Doch nun erst mal an die Theke.
    Vielleicht bist du überrascht, dass dich die Kellnerin darin berät, ob du ein Radler oder ein Diesel bestellen sollst. Vielleicht hast du mal in einem Film gesehen, dass Leute für eine solche Frage aus einer Bar hinaus geschmissen worden sind. Aber hier passiert so etwas nicht. Die meisten sitzen ruhig vor ihrem Bier und unterhalten sich leise mit ihrem Barhockernachbarn. Ab und an wird laut gelacht, wozu die Bardame meistens lauthals mit einstimmt Im Radio wird auf Radio Sachsen (RSA) „Hungry Eyes“ gespielt, der Song aus Dirty Dancing, der nicht „Time of my life“ ist. Der Wunsch eines Gastes, dass endlich mal Roland Kaiser wieder gespielt werden soll, verhallt unerhört.

    Archetypen: „Spieler“ und „Schnellsäufer“
    Vor dir entblößt sich ein Panoptikum verschiedener Gästecharaktere. Da ist der „Spieler“: Er sitzt stundenlang am Automaten, den er beständig mit Münzen füttert und rührt sein mittlerweile sicherlich schon schales Bier kaum an. Er starrt nur auf den Automaten, wie die Menschen früher auf das Feuer, welches ihnen in einer kalten Nacht Wärme spendete. Anregende Unterhaltungen kannst du mit dem „Mann mit der schweren Vergangenheit“ führen. Er diskutiert vor allem gerne über „Arschlöcher“, die nicht die Rettungsgasse für den Krankenwagen freimachen. Nicht zu vergessen den „Schnellsäufer“: Er wohnt in der Nachbarschaft, kommt hinein, bestellt für 1,50 (sic!) einen Korn und ein Bier und verschwindet wieder. Er hätte sich auch noch ein Eisbein genehmigen können.  Das wird hier für nur fünf Euro angeboten.

    Lok-Kritzeleien auf der Damentoilette
    Eine der wenigen anwesenden Damen, die zum ersten Mal hier ist, muss dann mal austreten. Für die Damentoilette gibt es dafür einen Schlüssel. Die Männer an der Theke lächeln wissend, als ihr der Schlüssel ausgehändigt wird. Schockiert berichtet sie beim Wiederkommen, dass das Frauenklo trotz Absicherung mit ganz vielen Lok-Kritzeleien überfüllt ist. In Kombination mit der Möglichkeit hier mit DM zu bezahlen, lässt darauf schließen, dass das wohl eine Nazibar ist! Der Mittdreißiger  kann beruhigen: Einen Nazi hat er hier noch nicht gesehen. Zumindest hat sich keiner getraut, sich als solcher  erkennen zu geben. Dennoch bleibt ein mulmiges Gefühl zurück. Aber wie Peter Alexander schon in seinem Evergreen „Die kleine Kneipe“ trällerte: „Die kleine Kneipe in unserer Straße da wo das Leben noch lebenswert ist, dort in der Kneipe in unserer Straße, da fragt dich keiner was du hast oder bist.“

    Eine Omi kämpft um die Theke
    Fast gleichzeitig mit dem Schichtwechsel kehrt eine Omi im rosa Pullover ein. Sie setzt sich an den einzigen freien Platz an der Theke und herrscht ihren Sitznachbar an, dass dieser sich nicht so breit machen soll. Selbstbewusst vermag sie es, sich mit ihrem Ellenbogen Platz zu verschaffen. Der Herr schreckt zurück. Mit ihr sollte man sich lieber nicht anlegen. Die Omi möchte nun bestellen. Aber die Bardame zankt energisch mit der gerade eingetroffenen Kollegin über einen Gast, der nicht bezahlt hat. Die Omi schnauft resigniert. Als sie endlich ihr Bier und ihren Korn bestellt hat, will die Stu­den­ten­gruppe mit dem freund­li­cher­weise integrierten Mittdreißiger, die Lokalität verlassen. Die Omi zwingt währenddessen eine der Bardamen, mit ihr zu rauchen. Ganz beiläufig wendet sie sich plötzlich zu der Gruppe und sagt: „Gott sei mit euch.“ Artig bedankt sich die Gruppe. „Denn wisst ihr“, fährt die Omi im rosa Pullover fort, „Gott ist auf meiner Seite.“ Das wäre ein prima Abschluss dieses Buß- und Bettages gewesen, wenn die Omi nach ihren religiösen Wünschen nicht noch eine Beschimpfungstirade auf die neue Bardame hätte folgen lassen.
    Wer günstiges Bier und nette Gespräche mag ist im Optiker gut aufgehoben, denn auch Charles Bukowski wusste: „Die Zahl unserer Abende ist begrenzt, und mit jedem verplemperten Abend versündigt man sich grausam am natürlichen Lauf des einzigen Lebens, das man hat.“

    Fotos: Juliane Siegert

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