Mitten im Wald
student!-Reiseserie: zu Fuß durch Schweden
Der erste Schritt ist immer der schwerste. Als wir am ersten Tag unserer zweiwöchigen Wanderung durch Schweden mit voll gepackten Wanderrucksäcken in Munkedal – knapp 100 Kilometer nördlich von Göteborg – aus dem Zug fallen, würde ich diesen Satz unterschreiben. Das erste Gefühl ist trotzdem Erleichterung, mich ein wenig bewegen zu können, denn die Anreise allein war schon ein großes Abenteuer: Insgesamt knapp 18 Stunden Zugfahrt mit einem halben Tag Zwischenstopp in Hamburg und einer Übernachtung in Göteborg. Fast zwei Tage, um von Leipzig in den kleinen Ort mitten in Südschweden zu gelangen. Umso dringender wollten wir jetzt unsere Wanderung auf dem Fernwanderweg Bohusleden beginnen, der uns tief in die waldreiche Natur Südschwedens und schließlich ans Meer bringen wird. Der Bohusleden ist ein insgesamt 360 Kilometer langer Wanderweg, der sich durch die ehemalige Provinz Bohuslän, von Göteburg nach Strömstad einmal quer durch Südschweden zieht.
Wir schultern also unsere Rucksäcke, die neben Zelt, Schlafsack und Kleidung auch Essen für 15 Tage enthalten und marschieren los – in die falsche Richtung. Nach der recht schnellen Erkenntnis unseres Irrtums und eines Richtungswechsels müssen wir noch quer durch den Ort laufen, bevor wir endlich auf den Wanderweg stoßen und vor dem ersten Hinweisschild des Wanderweges „Bohusleden“ stehen. Wir starten unsere Wanderung bei der offiziellen Etappe 16 von 27, was bedeutet dass wir ab diesem Punkt noch etwa 165 Kilometer vor uns haben. Zuerst einmal geht es angenehm, aber unspektakulär vorbei an Pferdekoppeln und noch relativ vereinzelt stehenden Bäumen. Über eine Brücke, die direkt über einen Wasserfall hinweg führt, gelangen wir endlich in den Wald, den wir für die nächsten 15 Tage kaum noch verlassen werden. Am ersten Tag sind wir immer noch ziemlich nah an der Zivilisation. Dass der Weg über verschiedene Grundstücke verläuft, merken wir daran, dass wir immer wieder mittels wackeliger Holztreppen über Zäune geleitet werden. Schließlich stehen wir vor einem riesigen See. Er liegt vor unseren Augen träge ausgebreitet, umgeben von Bäumen. Ein Gefühl des Ankommens. Das ist Schweden, so hatte ich mir es vorgestellt. An diesem Seeufer wollen wir am Abend übernachten. Allerdings sehr viel weiter hinten. Wir gehen noch mehrere Stunden, bevor wir schließlich unser Nachtlager aufschlagen. Dabei ist dieser See noch nicht einmal einer der größten Gewässer, an denen wir während unserer Wanderung vorbeikommen. Die Seenverbindung Süd Kornsjön und Nord Kornsjön begleitet uns später insgesamt fast drei Tage lang.
Hatte ich zu Beginn noch geglaubt, das Loslaufen sein das Schlimmste gewesen, zeigen mir der dritte und vierte Wandertag, dass sich mich darin gründlich geirrt habe. Diese Tage, denen der Elan der ersten beiden und die Gewöhnung der folgenden Tage fehlt, können eigentlich nur mit schmerzhaft zusammengefasst werden. Die Füße wollen raus aus den schweren Wanderstiefeln, der Rücken ächzt unter der Last der noch nicht deutlich weniger gewordenen Lebensmittel und der ganze Körper scheint ein einziger Muskelkater zu sein. Dafür kommen wir am dritten Tag an einer ganz besonderen Sehenswürdigkeit vorbei: ein Supermarkt – im Übrigen der Einzige, der uns auf unserer Wanderung bis Strömstad begegnen sollte. Glücklicherweise wusste ich das dank Internetrecherche vorher und so nutzen wir die Chance unseren Schokoladenvorrat aufzufrischen, eine Limonade zu trinken und noch ein wenig frisches Obst zu essen, dem in unserem Gepäck aus Gewichtsgründen Bananenchips und Müsliriegeln der Vortritt gewährt wurde.
Ab dem fünften Tag geht es bergauf. Nicht auf die Strecke bezogen, die eher ein ständiges auf und ab bildet. Vielmehr finden wir in einen Wanderrhythmus, der uns die Zeit lässt die Seen, Bäume, Tiere und anderen Naturschätze Schwedens zu bewundern, auf der anderen Seite uns aber so weit voranbringt, dass wir am Ende des Tages gemütlich das Etappenziel oder wenigstens einen schönen Platz zum Zelten erreichen. Dank des Jedermannsrechts darf man in Schweden praktisch überall sein Zelt aufschlagen, nur nicht auf öffentlichen Plätzen oder in Sichtweite von Häusern. Beides stellt für uns allerdings kein Problem mehr dar, weil es entlang der Route kaum Zivilisation gibt. So übernachten wir mal auf einer moosigen Hochfläche, mal mitten im Nadelwald oder auch direkt neben der Ruine eines seit mindestens hundert Jahren verlassenen Hauses. Die meisten Nächte verbringen wir aber in den Vindskydds (Windschutzhütten) die im Abstand von ein paar Kilometern entlang des Wanderweges aufgebaut wurden.
Diese besseren „Bushaltestellen“ bestehen nur aus einem Boden, Dach und drei Wänden, nach vorne hin sind sie offen. Außerdem gibt es an den Übernachtungsplätzen immer noch eine Feuerstelle und ab und zu ein hölzernes Toilettenhäuschen, welche aber leider auch bevorzugter Wohnort für Wespen ist. Die Offenherzigkeit der Hütten brachte uns schon am ersten Abend auf die Idee, unser Zelt einfach in die Schutzhütte zu stellen, was sich als äußerst praktikable Variante erweisen sollte. Von unten haben wir eine glatte Fläche die durch die selbst aufblasenden Isomatten auch nicht zu hart ist, nach allen anderen Seiten haben wir nicht nur Schutz vor Regen, sondern auch vor den Insekten, die die schwedischen Wälder zu Millionen bevölkern.
Die unglaubliche Stille des Waldes wird nur von Vogelgezwitscher, Insektengebrumm und dem Rauschen von Wind und Wasser unterbrochen. Klingt kitschig – ist es wahrscheinlich auch – aber die Wanderung ist schon nach kurzer Zeit eine wahre Erholung für alle Sinne. Nach wenigen Tagen haben wir uns so daran gewöhnt, dass es nur uns beide und das große Nichts um uns herum gibt, dass alle Zeichen menschlicher Zivilisation stören. Die drei Wanderer, welche wir während der gesamten Zeit unterwegs getroffen haben, waren allerdings zu verkraften.
Nach über 160 gelaufenen Kilometern erreichen wir mit einem lachenden und einem weinenden Auge Strömstad. Auch wenn die Wanderung anstrengend war, beginne ich die Schönheit der schwedischen Natur beim Anblick der Zivilisation fast augenblicklich zu vermissen. Zweifelsfrei sind wir uns einig, dass die Rückkehr in die Natur Schwedens nur eine Frage der Zeit ist. Schließlich haben wir keinen frei lebenden Elch beobachten können. Ein Umstand, der sich unbedingt bald ändern muss.
Fotos: Anne Krügel


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