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  • Ein Wettlauf gegen die Zeit

    Im Rahmen der Retrospektive „BRDDR“ des Dok-Filmfestivals wurde ein Forschungsprojekt vorgestellt, das das audiovisuelle Zeitzeugnis der sächsischen Lokalfernsehsender kurz nach der Wende aufarbeitet.

    Das Videobild ist matschig und kontrastarm, es zeigt ein marodes graubraunes Wohnhaus, davor einen russischen Lastwagen, an dem ein Stahlseil verankert ist. Das andere Ende des Stahlseils ist irgendwo zwischen dem zweiten und dem dritten Stock des Hauses befestigt. Der LKW fährt an und reißt aus der Mitte des Gebäudes eine Wand heraus. Staub wird aufgewirbelt und die Szenerie verschwindet im diffusen Dunst – Lokalfernsehbilder eines Hausabrisses aus Leipzig zwischen den Jahren 1990 und 1991, den Zeiten des wortwörtlichen Umbruchs.

    Gezeigt wurden die Filme während des Vortrags „ENT-GRENZT: Fernsehen von nebenan. Lokalfernsehen 1990 bis 1995“ bei der sogenannten Retrospektive des 62. Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm. Die Retrospektive gehört zum Sonderprogramm des Dok Leipzig und wird von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gefördert. In diesem Jahr rückte die Programmreihe die vier Jahrzehnte von der NS-Diktatur bis zur deutschen Wiedervereinigung in den Fokus. Dabei wird vor allem die deutsche Doppelstaatlichkeit in den Vordergrund gerückt.

    Die Aufnahmen des sächsischen Lokalfernsehens nach der Friedlichen Revolution wurden zusammengestellt von dem 2019 gegründeten Leipziger Institut für Heimat- und Transformationsforschung (LIHT). Die Gründer*innen Judith Kretzschmar und Rüdiger Steinmetz vom Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig stehen auf der Bühne und bringen dem Publikum näher, warum es wichtig ist, das sächsische Lokalfernsehen der frühen 90er Jahren zu erforschen und aufzuarbeiten.

    Unzählige Lokalfernsehsender entstanden nach dem abrupten Ende des DDR-Fernsehens in ganz Sachsen. Es schien fast so, als versuchten die Menschen eine audiovisuelle Lücke zu schließen, denn die Bereitschaft der Darstellung aktueller gesellschaftlicher Ereignisse war enorm groß. Die Macher*innen der Sender waren oft keine ausgebildeten Medienprofis und begaben sich somit ganz selbstverständlich in die Mitte der Gesellschaft. Sie versuchten teilweise kritisch abzubilden, wie Zeitungen wie die FAZ oder die Bild-Zeitungen der alten Bundesländer bei den ehemaligen DDR-Bürger*innen ankamen.

    Darüber hinaus befragten sie damals die Menschen der Leipziger Innenstadt, welcher Partei sie bei der ersten freien und geheimen Wahl im März 1990 ihre Stimme geben werden. Die fein beobachteten Bilder sind erst der Beginn einer systematischen Digitalisierungsarbeit unzähliger Sendungsmitschnitte in den Archiven der sächsischen Lokalfernsehender. „Die Aufarbeitung der frühen Nachwendegeschichte ist längst nicht abgeschlossen“, sagt Rüdiger Steinmetz, emeritierter Professor der Medienwissenschaft und Medienkultur. „Es stellen sich nach wie vor viele unbeantwortete Fragen. Folgenreiche Geschehnisse werden im Forschungsprozess erkannt, aufgefächert und mit anderen Quellen ergänzt“, erklärt er.

    Das vom Land Sachsen geförderte Projekt des LIHT arbeitet das audiovisuelle Zeitzeugnis der sächsischen Lokalfernsehsender auf und versucht die Ursachen aktueller politischer und gesellschaftlicher Ereignisse historisch einzuordnen und neu zu bewerten. Das LIHT versucht „Kompetenzen und wissenschaftliche Expertisen in Bezug auf audiovisuelle Heimatempfindungen und Transformationserfahrungen zu bündeln“, äußert Judith Kretzschmar, die über die Repräsentation von „Heimat“ im DDR-Fernsehen promovierte. Das bedeutet, dass die Inhalte der aufgearbeiteten Sendungen systematisiert werden und in die aktuelle Nachwendeforschung einfließen. Gemeinsam laufen Steinmetz und Kretzschmar in ihrem Projekt gegen die Zeit, da die Beiträge der Sender auf VHS-Kassetten archiviert sind, deren Haltbarkeit fast überschritten ist und die Digitalisierung massiv erschwert. Kretzschmar betont, „dass es wichtig sei, die Öffentlichkeit auf den Wert dieses Projekts aufmerksam zu machen, damit das audiovisuelle Erbe erhalten bleibt.“

    Die 2018 getroffene Vereinbarung zum Erhalt des nationalen Filmerbes der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und den Bundesländern sowie der Filmförderungsanstalt schließt bislang die Digitalisierung von Fernseharchiven nicht mit ein, bedauert Steinmetz. Er bekräftigt jedoch, dass die Förderung des Projekts durch Programme wie „Revolution und Demokratie“ ein wichtiger Schritt für die Aufarbeitung der Geschehnisse zu Zeiten der Friedlichen Revolution sind.

    Noch in diesem Jahr werden Kretzschmar und Steinmetz durch Sachsen reisen und ihr Projekt präsentieren, sie wollen mit den Menschen ins Gespräch kommen und Interviews mit Zeitzeugen der Friedlichen Revolution führen. Das gesammelte Material soll schlussendlich für bundespolitische Bildung aufgearbeitet und unter anderem an Schulen angeboten werden.

     

    Foto: Judith Kretzschmar

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