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  • Ein selbstgewähltes Leben in Armut

    In Leipzig-Grünau leben mitten in einer Plattenbau-Siedlung die Kleinen Brüder vom Evangelium – eine Ordensgemeinschaft, die nach dem Vorbild des Priesters und For­schers Charles de Foucauld lebt.

    In der gut gefüllten Tram nach Grünau sitzen wenige junge Menschen – nur ein Mann, der sich nervös an die Zähne fasst, als würden sie ihm gleich herausfallen, und zwei Skaterboys, die sich in britischem Englisch unterhalten. An den Haltestellen gibt es keine Ansagen für Museen oder Sehenswür­digkeiten, noch nicht ein­mal „Optiker Weiß“ oder „Heu­reka Nachhilfe Leipzig“ werden angekündigt, sondern „Park and Ride“ sowie „McDonald‘s und McCafé“. Schließlich kommt man an der Haltestelle Schönauer Ring an, in deren Nähe die Kleinen Brüder vom Evangelium ihren Sitz haben. Diese katholische Ordensgemeinschaft unterscheidet sich stark von dem „typi­schen“ Bild, das der Begriff „Orden“ bei vielen auslöst: Ihre Mitglieder verstecken sich nicht hinter dicken Klostermauern, sie tragen keine Mönchskluft und gehen einer weltlichen Arbeit nach. Besonders ist an ihrem Leben vor allem, dass sie es selbstgewählt in sogenannten Problembezirken führen.

    Einer dieser Bezirke ist Leipzig-Grünau: Bei der Bundestagswahl 2017 gingen hier in den verschiedenen Bezirken zwischen 21 und 29 Prozent der Stimmen an die AfD. Ein Jahr zuvor waren von den rund 33.000 Einwohnern nur etwa 9.000 als Beschäftigte gemeldet. Im Gegensatz zu anderen Stadt­teilen wächst Grünau nicht. Hier leben überdurchschnitt­lich viele Senioren, also viele Men­schen mit wenig oder gar kei­nem Einkommen. Herzlich will­kommen in der größten Plattenbausiedlung Sachsens.

    Andreas Knapp                      Foto: Gerd Neuhold

    In dieser Gegend sind die Kleinen Brüder vom Evangelium seit 13 Jahren tätig. Sie haben in dieser Zeit in verschie­denen Wohnungen gewohnt, aus denen sie wegen groß angelegter Renovierungsarbeiten wie­der ausziehen mussten. Jetzt haben sie sich zu viert in zwei direkt übereinander gelegenen Wohnungen niedergelassen. Die Brüder verstehen sich als Gütergemeinschaft, in der es bis auf wenige persönliche Gegenstände keinen privaten Besitz gibt. Strenge Vor­schrif­ten gebe es dabei aber nicht. Jeder hat ein eigenes Zimmer, außerdem gibt es ein kostenloses Gästezimmer für Menschen, die einige Tage religiöse Stille suchen. Mit dieser Lebensweise befolgen die Brüder – genauso wie auch die Kleinen Schwestern vom Evangelium die Anweisungen ihres Vorbildes, des Priesters und For­schers Charles de Foucauld: „Bemühen wir uns wie Jesus um jene Armut, die darin besteht, wie die Armen zu leben und wie sie nicht über mehr als das Notwendigste zu verfügen.“

    Der 1958 in Westdeutschland geborene Andreas Knapp war bereits in verschiedenen Ländern Teil von Brüdergemeinschaften. „Damals war hier viel kaputt, es war heftig“, erzählt er über den Umzug nach Leipzig-Grünau. Zu DDR-Zeiten sei die Großwohnsiedlung im Westen Leipzigs eine Schlafstadt gewesen. Daran habe sich bis heute nicht viel geändert: „Keine Pizzeria, keine Disco, keine Kneipenszene.“ Nach 1990 wurde wegen der abnehmenden Bevölkerung viel abgerissen. Wer konnte, zog nach Westdeutschland oder Richtung Zentrum in die wieder bewohnbaren Gründerzeithäuser. Den Brüdern kam es zugute, dass ihr Mitglied Michael Schilling aus Görlitz stammt und während der Friedlichen Revolution Anfang 20 war, denn: „Hier wohnt noch DDR-Milieu.“

    Kleine Brüder vom Evangelium

    Genau wie ihr Vorbild de Foucauld, der unter anderem Anfang des 20. Jahrhunderts bei den Tuareg lebte und deren Sprache lernte, sind die Gemeinschaften der Kleinen Brüder vom Evangelium sehr international geprägt: Ungefähr 80 Brüder leben in 18 verschiedenen Ländern. Französisch ist die Hauptsprache der in Algerien gegründeten Kleinen Brüder, aber sie laden auch zum Erlernen anderer Sprachen und Kennenlernen weiterer Kulturen ein. Knapp hat bereits in Gemeinschaften in Bolivien, Neapel und einem Vorort von Paris gearbeitet. Außerdem ist es Teil der theologischen Ausbildung, ein Jahr in der Nähe von Assisi zu absolvieren, bei dem die Mitarbeit bei Bauern, Stille und Gebet im Mittelpunkt stehen. Alle Mitglieder haben Theologie studiert. Der in Leipzig tätige Michael Schilling hat außerdem eine Elektrikerausbil­dung gemacht. Die Kleinen Brü­der leben nicht nur in einfachen Milieus, sondern arbeiten dort auch, um ihr Leben zu finanzieren. Einen Zuschuss von der Kirche gibt es für sie nicht: (Ordens-) Gemeinschaften erhal­ten in der Regel keine Kirchensteuermittel, sondern finanzieren sich durch Arbeit und Spenden selbst.

    Alltag in der Gemeinschaft

    Die Gründung einer Gemeinschaft in Leipzig-Grünau war eine bewusste Entscheidung: für ein ostdeutsches Bundesland und einen Stadtteil, in dem kaum Christen leben, gegen das abgeschiedene und vor allem wenig Arbeit bietende Landleben. Dennoch verstehen sich die Brüder nicht als Mis­si­o­nare. Ihr Leben stützt sich statt­dessen auf drei Pfeiler: Gebet, brüderliches Zusammenleben und Teilnahme am Leben der Armen.

    Die Tage bei den Brüdern beginnen und enden mit einem gemeinsamen Gebet. Außerdem nimmt sich jeder zusätzliche Zeit für eine Stunde Me­di­ta­tion und Stille. Häufig werden offene Andachten veranstaltet, bei denen etwa 15 Menschen zum gemeinsamen Essen und Gottes­dienst zusammenkommen. Die Brüder kooperieren auch mit den beiden Gemeinden in Grünau, einer katholischen und einer evangelischen, die vor allem zusammen im Namen der Ökumene auftreten. „Eine bessere Durchmischung tut immer gut“, stimmt Knapp dieser Arbeitsweise enthusiastisch zu.
    Ansonsten sind die vier vielbeschäftigt: Gotthard Moser arbeitet in der Leitung der Ge­samt­gemeinschaft der Kleinen Brüder mit und begleitet außerdem als Ehrenamtlicher ehema­lige Strafgefangene. Michael Schilling ist Haushaltshilfe in einem Heim für Menschen mit Behinderung, Gianluca Bono arbeitet im Hol- und Bringdienst im Krankenhaus. Eine Stunde oder länger dauert der tägliche Weg zur Arbeit mit den öffentlichen Verkehrsmitteln – das sei für Grünauer Verhältnisse normal. Knapp hat seinen Fließbandjob inzwischen auf­ge­ge­ben. Der freie Schriftsteller ar­bei­tet ehrenamtlich ein bis zwei­mal pro Woche in der Gefangenenseelsorge und widmet sich ansonsten den hilfebedürftigen Menschen in Grünau. Momentan sind das vor allem Geflüchtete, denn wegen des billigen Wohnraums leben viele von ihnen in Grünau.

    Knapp vermittelt den Kindern Hausaufgabenhilfe, unterstützt die Erwachsenen beim Papierkram und begleitet sie zu Amtsgängen. Auch heute besucht er wieder eine Familie in Not. Auf dem Weg dorthin, den er normalerweise mit dem Fahrrad zurücklegt, wird deutlich, wie groß Grünau eigentlich ist. Hier reiht sich Plattenbau an Plattenbau. Es gibt viele kleine Woh­nungen soweit das Auge reicht, außerdem das Allee-Center, hinter dem es immer wie­der zu Schlägereien und Dro­gen­handel komme, wie Knapp erzählt. Er kennt sich aus in Grünau und mit den Bewohnern; auf dem kurzen Weg zu der wenige Straßen weiter entfernt lebenden Familie weiß er zu berichten, dass es hier früher fünf Gymnasien gab und heute nur noch eines. Knapp muss auch einmal anhalten, um mit einer Mutter und ihrer Tochter zu sprechen. Die Ahmeds*, zu denen er unterwegs ist, sind nicht die einzigen in Grünau, die seine Hilfe benötigen.

    Besuch bei den Ahmeds

    Die Ahmeds stammen ursprünglich aus der Stadt Mossul im Irak. Nachdem der so­ge­nannte Is­la­mische Staat alle christ­lichen Einwohner zwang, entweder zu konvertieren oder die Stadt zu verlassen, floh die Familie nach Nordkurdistan. Die Fluchtgeschichte der Ahmeds geht weiter über Syrien nach Jordanien. Bei diesem struk­turlosen Leben konnten die sechs Kinder kaum zur Schu­le gehen. Inzwischen ist die Mutter schwerkrank und der Vater seit einigen Monaten spurlos verschwunden. Nun müssen nicht nur finanzielle Hilfeleistungen für die Klassenfahrt angefordert, son­dern auch sämt­liche auf den Namen des Vaters ausgestellte Papiere geändert werden. Dabei hilft ihnen Knapp.

    Mindestens einmal pro Woche kommt er vorbei, setzt sich auf das Sofa im Wohnzimmer und wühlt sich bei Tee und Kek­sen durch die immer größer werdenden Papierstapel. Neben­bei lobt er die guten Schulleistungen der Mädchen, er­kundigt sich nach dem Ge­sund­heitszustand der Mutter und schimpft über die deutsche Bürokratie. Wenn die Papierstapel zumindest ein wenig klei­ner geworden sind, fährt er zurück nach Hause. Dort kocht er für seine Mitbewohner, die bald von der Arbeit zurückkehren werden – ein wenig wie in einer Familie oder in einer WG mit einer großen Portion Engagement.

    *Name geändert

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