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  • Warten auf Auschwitz

    Ein Theaterstück über Schicksal und Würde im Nationalsozialismus: rimon productions‘ Inszenierung von Arthur Millers „Zwischenfall in Vichy“ widmet sich zu sehr dem Inhalt und zu wenig der Form.

    Der US-amerikanische Schriftsteller Arthur Miller, geboren 1915 als Kind einer jüdischen Familie, veröffentlichte im Jahr 1964 sein Drama „Zwischenfall in Vichy“. Es spielt in Vichy, im unbesetzten Teil Frankreichs während der NS-Zeit. Trotzdem finden sich dort verschiedene Menschen grundlos festgenommen auf einer Polizeiwache wieder, wo das gesamte, einaktige Stück spielt. Nacheinander werden alle zum Verhör aufgerufen. Während sie warten, sprechen sie über ihr Schicksal, über die Deutschen, über Glaube und Politik.

    Einleitend erzählt Esther Ningelgen, Pressesprecherin des Schauspiels Leipzig, zwei interessante Fakten zu dem Stück, das die Gruppe rimon productions im Rahmen der Jüdischen Woche Leipzig in der Spielstätte Diskothek aufführt : „Es wird nicht so oft gespielt.“ Sie ergänzt, dass es eigentlich 17 Rollen gibt, die in dieser Version auf zehn reduziert worden sind.

    Doch auch für diese zehn Rollen erscheint die Bühne zu klein. Anfangs wird sie von fünf Menschen betreten, alle mit einer Schublade in der Hand, auf der jeweils eine Zahl steht. Diese Schubladen passen genau in den Schrank, der im Hintergrund steht. Schreibtischtäter sind hier am Werk.

    Die Diskussionen beginnen und lassen schnell durchscheinen: Die Rollen in diesem Stück scheinen nicht nur Schubläden in ihren Händen zu halten, sondern auch ganz genau in diese reinzupassen. Ein Psychologe (Hanno Dinger), ein Adliger (Matthias Fuhrmeister), ein Schauspieler (Anton Tsirin), eine Kommunistin (Marie Dinger) und eine Künstlerin (Britta Schulamit Jakobi, die auch Regie führt) sind in einem Raum versammelt. Deren Gesprächssituation spiegelt sich im Rest des Bühnenbildes wieder, zu dem auch ein alter, zu schlafen scheinender Jude (Hanjo Butscheidt) und eine Uhr, die bei genauem Hinsehen rückwärts läuft, gehören. Denn die vielen Persönlichkeiten sind zu verschieden, um nicht aneinander vorbei zu reden.

    Der Schauspieler Monceau zweifelt an den Gasöfen in Auschwitz.

    Wie in einem Laientheater scheinen sich die Schauspieler*innen erst warmspielen zu müssen. Ihr Gespräch wendet sich über die Frage, warum sie hier sind, Vichy sei ja nicht Teil der Besatzungszone, man sei hier doch sicher ─ ist auch Ihre Nase auf offener Straße vermessen worden? ─ der Frage nach dem richtigen Verhalten beim Verhör zu. Dem wissenden Publikum erscheint sie sinnfrei und genauso absurd wie die Zweifel einzelner Rollen an der Shoah. Auf das Gerücht hin, in Auschwitz gäbe es Gasöfen, eigens für die Vernichtung der Juden*, entgegnet der Schauspieler Monceau: „Man darf doch nicht den Sinn für Proportionen verlieren. Die Deutschen sind auch nur Menschen.“ Der Adlige von Berg enttarnt diese Aussage. Gerade weil es so unglaubwürdig erscheine, Geld für Transporte und Gasöfen auszugeben, sei es so lähmend. Die Menschen seien für die Nazis nur Töne, die sie spielen.

    „Zwischenfall in Vichy“ bietet einige sprachliche Bilder wie dieses, es gibt ab und zu ebenso wirkungsvolle selbstgemachte Geräuscheffekte und Einblendungen von Nils Frahms Klavierstücken. Ansonsten bleibt das Theaterstück seltsam leer. Hier gibt es kein ewig sinnloses „Warten auf Godot“, sondern viel zeittotschlagendes Reden, das die einzelnen Charaktere dumm und naiv erscheinen lässt. Das gegenseitige Enttarnen der politischen Ansichten könnte interessant sein, auch die vielfältigen Gründe, Frankreich nicht zu verlassen (eine gute Rolle am Pariser Theater; der Glaube an eine bessere, eine kommunistische Zukunft; ein Messingbett). Aber die Schauspieler*innen wirken, als hätten sie zu wenig Zeit gehabt, um ihre Dialoge miteinander zu proben. Der Major (Carlos Piedra) ist der einzige multidimensionale Charakter: einer, der Böses tut, aber daran verzweifelt.

    Volle Bühne: ein Schauspieler, eine Künstlerin, ein alter Jude, ein Junge, ein Psychologe und ein Adliger (v.l.n.r.).

    Das Stück wird tragischerweise besser, sobald einige Rollen nach dem Verhör weggeschickt werden. Je weniger Schauspieler*innen auf der kleinen Bühne sind, desto seltener merkt man, dass ihre nicht abgelebten Absätze viel zu laut klappern und dass ihre Gänge und Zeilen nicht intuitiv genug sind. Am Ende sind der jüdische Psychologe und der nichtjüdische Adlige nur noch zu zweit. Nun können Gedanken klarer gemacht werden, wie die Frage nach der Kultur(losigkeit) der Deutschen. Es gibt auch viel Stille, die in dem Rest des Stückes kaum eingesetzt wird. Sie verleiht den Rollen mehr Würde und vor allem der Quintessenz des Stückes: Der Adlige, als Nichtjude, als Nichtopfer, ist der einzige, der ein Held sein kann. Denn Auschwitz lässt keine Menschlichkeit zu.

    Ansonsten bietet „Zwischenfall in Vichy“ aber zu viel Inhalt und zu wenig Form an. Allein, dass bereits vor Beginn auf die anschließende Diskussion hingewiesen wird, lässt es wie ein Lehrstück wirken ─ eines, das viel redet und wenig zeigt. Vielleicht hat es seine Gründe, dass es nicht oft gespielt wird.

    Titelfoto: Ilja Kagan

    Weitere Fotos: Yinon Shemaryahu

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